Vor 25 Jahren starb Kurt Cobain. Ein Erlebnisbericht

Pogen am Stadtrand

Von Christoph Hentschel

Wir schreiben das Jahr 1993, irgendwo am Münchner Stadtrand. Der Entschluss, meine Haare lang  wachsen zu lassen, war gefasst und so saß ich die Phase aus, in der man wie Prinz Eisenherz aussieht – nicht mehr kurz, aber noch nicht lang genug. Die erste Schachtel Kippen war unter Einsatz des eigenen Lebens aus dem Automaten, wenige Querstraßen vom elterlichen Heim entfernt, gezogen und die Glimmstängel wurden höchst klandestin gepafft beim Gassigehen mit dem Hund. Was dem pubertären Glück noch fehlte, war der richtige Sound.

Eines Abends saß ich dann mit meinem Vater und meiner älteren Schwester vor dem Fernseher. Gerade hatte man Kabelfernsehen bekommen und schaltete sich durch die neue Vielfalt von Sendern durch. Wir landeten auf MTV. Der Musiksender übertrug ein Konzert von „Nirvana“. Schroffe Gitarren, ein langhaariger Kerl prügelte auf das Schlagzeug ein, ein blonder Mann schrie ins Mikro. Die drei Bandmitglieder fingen an, ihre Instrumente zu zerschlagen. Dann stand der Sänger völlig apathisch auf der Bühne und machte eine Handbewegung zum Publikum, dass sie auf die Bühne kommen sollten. Die Konzertbesucher stürmten auf die Bühne und zertrümmerten die Verstärker, während der Sänger weiterhin teilnahmslos da stand. Das war es! Pubertärer Weltschmerz und das Verlangen nach Rebellion und endloser Coolness hatten ihre Ausdrucksform gefunden.

Gleich am nächsten Tag radelte ich nach der Schule zum nächsten Plattenladen und kaufte mir „In Utero“. Kurt Cobain, Krist Novoselic und Dave Grohl hießen meine neuen Helden. Ab da wurde regelmäßig mit Schulfreunden im Kinderzimmer gepogt. Bald darauf, endlich mit langen Haaren, auf der Jugendparty der örtlichen Pfarrei. Dort lernte ich schnell, dass man mit „Apfelkorn“ und „Kleiner Feigling“ noch besser pogen kann.

Irgendwann Anfang 1994 hieß es dann, „Nirvana“ kommt nach München. Da musste ich natürlich hin, komme was wolle! Ich kratzte die letzten Mark zusammen, fuhr zum Marienplatz, wo es damals eine Ticketverkaufsstelle im S-Bahn-Zwischengeschoss gab. Ich stellte mich brav in eine lange Schlange an und warte. Als nur noch drei Menschen vor mir dran waren, plärrte eine Frauenstimme: „Nirvana ist ausverkauft!“ Nach den ersten fassungslosen Schrecksekunden beschwichtigte ich mich selbst: „Die kommen wieder mal nach München und dann bekomme ich ein Ticket.“ Der „Nirvana“-Kenner wird jetzt einwerfen wollen, dass das Konzert in München Anfang 1994 das letzte Konzert war, das „Nirvana“ jemals in Deutschland gegeben hat. Stimmt! Und das ärgert mich bis heute.

Denn am 5. April 1994 nahm Kurt Cobain eine Überdosis Heroin und schoss sich mit einem Gewehr in den Kopf. Aber dass der, der mir meine Existenz in der öden Vorstadt etwas erträglicher gemacht hatte, nicht mehr war, erfuhr ich erst einige Tage später. Ich war mit meiner Pfadfindersippe in Sizilien. Wir kampierten in verlassenen Villen und römischen Ruinen und ließen unsere Haut von der Sonne verbrennen. Erst als wir nach einer 21-stündigen Zugfahrt am Münchner Hauptbahnhof ankamen, erfuhren wir, dass Kurt Cobain tot war und es die Band, mit der wir die ersten Schritte zum Erwachsenwerden gemacht hatten, nicht mehr gab.

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"Pogen am Stadtrand", UZ vom 5. April 2019



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