Künstliche Intelligenz: Leander Fischers Roman „Die Doppelgänger“

Realität im Doppelpack

Wo Lust zur Lustwut wird: In Leander Fischers zweitem Roman „Die Doppelgänger“ quillt die Sprache über. Das ist auch Ziel des 31-jährigen Österreichers, wird sich gegen Ende des Romans doch über die „well-done Bügelfaltenprosa“ beschwert, die „Blickwinkel und Erzählstimme von Maschinen kopieren und abspulen, sie weiter in programmatische Repetition treiben. Sound, Dingsymbol und Camera-Eye, rhythmisierte Sätze, geschlossene Motivketten, leblose Dinge. Sie richten sich zugrunde. Sie brennen selbst gewählt im Fegefeuer. Duracell-Hase und Burn-out.“

Die scheinbar einer Manufaktur entspringende, flott lesbare Heldengeschichte mit schiefgekloppter und damit anti-aristotelischer Pyramide als Handlungsbau, wie sie in Legion hinter dem Etikett Roman gefertigt und vertrieben wird, sucht man bei Fischer vergebens. Überhaupt: Zurechtfinden soll man sich nicht, sind sich doch nicht mal die Figuren sicher, wer wer ist. Die angehende Autorin Marlene lernt Nic an einem österreichischen Bahnhof kennen. Sie hatte illegal versucht, am Gleis zu rauchen; den Behörden entzieht sie sich durch den ersten Kuss mit ihm. Er aber ist zwei: Sein Bruder Vic sieht ihm zum Verwechseln ähnlich. Die Nachahmung ist ihr Vorteil in der Welt, den sie sich, Gesetzesgrenzen überschreitend und oft im arroganten Arschlochmodus, zunutze machen. Die andere Frau im Beziehungs-Bäumchenwechseldich, Künstlerin Elena, scheint sich längst damit abgefunden zu haben. Vielleicht sieht sie in der Performance im sozialen Raum eine Kunst der Kunst wegen.

Marlene dagegen fremdelt. Ihre Schreibausbildung erfährt sie, wie Fischer selbst, im niedersächsischen Hildesheim: „Statt Miniaturprosastücke wie ihre Mitstudierenden zu fabrizieren, verzeichnete sie feine Differenzen und Interferenzen in ihren Notizheften während Übungskursen und Seminarsitzungen, sogenannten Werkstätten, wo ebenjene vorgelegten Kürzestgeschichten von den anderen Immatrikulierten und Inskribierten mit standardisierten Kommentaren beschossen wurden, von Fluxus und Flow sowie Fluidum oder Rhythmus, unreiner Reim, Beistrich, Komma, Semikolon; Strichpunkt. Die niederdiskutierten wannabe Schriftstellenden in spe hielten die Schelte krakelig mit ihrer Sauklaue eifrig fest, freilich ohne mitzukommen, in ihren Kladden auf Kaszetteln.“ Wer das vulgärnaturalistische Credo „Write What You Know“ für Klippschreibschüler verinnerlicht, der oder die hadert umso mehr mit einer verzerrten, weil doppelten Realität, die sich selbst nachahmt. Als hätte man eines dieser als „künstliche Intelligenzen“ falsch gelabelten Programme für maschinelles Lernen angezapft und darum gebeten, vom Menschen ein Bild zu generieren. Die Maschinchen werfen bekanntlich Spiegelbilder ab, in denen mehr Arme und Finger auftauchen, als der durchschnittlich hat.

Hildesheim ist neben dem österreichischen Land, Wien und Berlin einer der zentralen Orte der sich kaum zu einer fügenden Handlung. Die wahlweise größte Kleinstadt oder kleinste Großstadt der Bundesrepublik erfährt dementsprechend viel Hohn vom Autor. Seitenweise geht es auch um architektonische Fehlleistung in Form von Berliner Bibliotheken – haltungsliterarischer Humor, nicht nur der Orte wegen wieder nah am Hildesheimer Literaturinstitut, von dem die Ronja von Rönnes abgehen.

Anders allerdings als die, die ihre Leserinnen und Leser mit Lesbarkeit langweilen, ballert Fischer in ziemlich komplettem Austrodeutsch alle Ansätze bulimischer Literatur nieder, setzt Anglizismen als Widerhaken, sprachspielt, verliert Fäden und findet welche, die er vorher gar nicht gesponnen hatte.

Im letzten Drittel des Romans erfährt Elena Feedback zu ihrer Kunst. Malen könne sie. „Und alle Arbeiten haben eine Art Pointe. Aber ihnen fehlt die Tiefe.“ Umgekehrt taucht man ab, wenn man Leander Fischers „Die Doppelgänger“ liest und findet keinen Grund, nur noch mehr Möglichkeiten, weiter abzusteigen. Den wohlig-umhüllenden, unendlichen Sätzen in W. G. Sebalds „Austerlitz“ ähnlich, trägt einen Fischers Prosa durchs Dunkle da unten, in dem Lebewesen hausen, die wir anders von weiter oben kennen – als hätten wir sie unseren Erfahrungen entnommen und im Kopf aus Spaß an der Freude neu zusammengesetzt. L’art pour l’art in Zeiten von ChatGPT.


Leander Fischer
Die Doppelgänger
Wallstein Verlag, 495 Seiten, 28 Euro


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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Realität im Doppelpack", UZ vom 23. Juni 2023



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