Ein Comic über die Selk’nam

Reise zu einem unbekannten Volk

„Wir, die wer?“ werden sich in den Buchhandlungen einige Menschen fragen, die Carlos Reyes’ und Rodrigo Elguetas Graphic Novel „Wir, die Selk’nam“ in den Händen halten. Zumindest, wenn sie in Europa leben und nie eine Reise nach Feuerland unternommen haben. Denn dort ist das indigene Volk der letzte Schrei, zumindest wenn es um T-Shirts, Püppchen und anderen Kitsch für Touristen geht. Doch Reyes und Elgueta machen sich auf die Suche nach den wahren Selk’nam.

Ihr Schicksal ist das traurige eines indigenen Volkes: Europäische Entdecker, die sie für nicht besser als Tiere hielten, Viehzüchter, die Land wollten, Missionare, die sie zum Christentum zwingen wollten. Unterdrückung, Entführung, Massenmord.

Doch Reyes und Elgueta wollen mehr über die Selk’nam erfahren als nur ihr Schicksal. Sie machen sich auf, um Expertinnen und Experten zu befragen, begleiten Künstler bei ihrer Auseinandersetzung mit den Selk’nam und graben sich durch Beschreibungen von Anthropologen, um mehr über das indigene Volk zu erfahren als „Sie waren nomadisierende Jäger“.

Dabei lassen sie die Leserinnen und Leser auf eine Art und Weise teilnehmen, die ihnen zu gleich einen Einblick in die Entstehung von Comics gibt. Sie zeichnen sich selbst auf ihrer Reise zu den Selk’nam, in Museen, Theatern, in Gesprächen, und sie durchbrechen dass, was man im Film die „vierte Wand“ nennt: Immer wieder blicken sie aus den Bildern heraus und sprechen ihre Leser direkt an, es fallen Sätze wie „Entschuldige Pamela, aber hier müssen wir einen Einschub machen für die, die uns lesen“. Dann schweift der Comic ab, macht einen Einschub hin zur Pinochet-Diktatur und zur „Umerziehung“ der Kinder. Denn nichts anderes machte die Kirche mit den Kindern der Selk’nam.

Reyes und Elgueta tauchen aber auch ein in die Mythenwelt der Selk’nam, die ihr Leben bestimmte, in die Erzählung über die Entstehung der Menschen und in den Mythos, mit dem die Männer des Volkes nicht nur das Ende des Matriarchats erklärten, sondern für zukünftige Generationen rechtfertigten. Dabei erfährt man auch, warum der Mond (der ja nur in einer Minderheit der Sprachen männlich ist) ein fürchterlich vernarbtes Gesicht hat.

Die beiden Autoren schlagen in kurzen Abschnitten immer wieder einen Bogen, ziehen Verbindungen und zeigen Kausalitäten auf. So zeigen sie den Zusammenhang der Verfolgung und Ermordung der Selk’nam durch Großgrundbesitzer mit dem Mord an 1.500 streikenden Landarbeitern 1922 im argentinischen Santa Cruz. Und die Europäer, die sich Selk’nam und andere Indigene in „Menschenzoos“ anschauten, sind von den Europäern, die der Welt heute „Menschenrechte“ erklären, weniger weit weg, als es viele wahrhaben wollen.

Das zieht sich bis zu den Wohlmeinenden, die heute an die Selk’nam erinnern wollen. Bei Wikipedia heißt es: „1911 lebten noch etwa 300 Selk’nam in Reservaten, aber eine Masernepidemie im Jahre 1925 tötete den Großteil dieser Menschen. 1966, 1969 und 1974 starben drei letzte bekannte Selk’nam: Esteban Yshton, Lola Kiepje und Ángela Loij.“ Dem würden Carlos Reyes und Rodrigo Elgueta widersprechen. Denn sie lernen auf ihrer Reise zu den Selk’nam auch, dass es westlicher Arroganz entspricht, von den „Nachfahren“ indigener Völker zu sprechen. So sprechen sie mit Margarita Maldonado, die in Argentinien lebt. „Ihre Leute wurden dezimiert, aus ihren Gebieten vertrieben, gejagt wie Tiere, vernichtet bis zu dem Punkt, dass man dachte, sie hätten aufgehört zu existieren.“ Doch auch das gehört mit zur Taktik, die Selk’nam tot und entrechtet zu halten. „Viele geben vor, die Selk’nam zu lieben, und denken sich regierungsgeförderte Projekte aus“, so Maldonado im Comic. „So lieben alle unsere Selk’nam, aber nicht uns. Verehrt werden die, die nicht mehr da sind.“ Und so erklärt sich auch der Wunsch Maldonados an die Comicbuchautoren: „Nutzt eure Mittel zur Verbreitung und erzählt dass wir, die Selk’nam, am Leben sind.“

Carlos Reyes und Rodrigo Elgueta
Wir, die Selk’nam
Bahoe Books, 145 Seiten in DIN-A 4, 26 Euro

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Über die Autorin

Melina Deymann, geboren 1979, studierte Theaterwissenschaft und Anglistik und machte im Anschluss eine Ausbildung als Buchhändlerin. Dem Traumberuf machte der Aufstieg eines Online-Monopolisten ein jähes Ende. Der UZ kam es zugute.

Melina Deymann ist seit 2017 bei der Zeitung der DKP tätig, zuerst als Volontärin, heute als Redakteurin für internationale Politik und als Chefin vom Dienst. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bei der Arbeit für die „Position“, dem Magazin der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend.

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"Reise zu einem unbekannten Volk", UZ vom 5. Januar 2024



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