Deutsche Bewerber um den Titel „Kulturhauptstadt Europa 2025“

Rüben und Rosen

Von Jürgen Meier

Die Wahlen zum EU-Parlament sind vorbei. Illusionen über die Europäische Union wurden verstärkt. Tatsächlich sind viele Menschen in Europa der Meinung, die EU sei ein Bollwerk des Friedens und der Demokratie, das an der Seite der NATO ökonomisch und militärisch besonders gegen die Konkurrenz von Russland und China verteidigt werden muss. Dass die EU ein imperialistisches Gebilde ist, von dem Banken und Konzerne profitieren und Länder wie Griechenland, Moldawien, Spanien, Portugal, aber auch afrikanische Länder permanent in ihrer Existenz bedroht werden, wurde genauso verdrängt wie die wachsende Armut nicht nur in diesen Ländern, sondern auch in Frankreich und Deutschland, wo Menschen auf der Straße leben müssen, weil sie ihre Mieten nicht mehr zahlen können.

Da kam 1985 die Idee der griechischen Kulturministerin und Sängerin Melina Mercouri („Ein Schiff wird kommen“) gerade zur richtigen Zeit. Mercouri schlug der EWG, wie die heutige EU damals noch hieß, vor, europäische Städte sollten im jährlichen Wechsel ihr kulturelles Erbe präsentieren, um nicht nur die Freiheit des Warenhandels zu repräsentieren. Es nahm in Folge ein Irrationalismus Gestalt an, der heute zu Hochform aufgelaufen ist und der glauben machen will, die EU sei ein Bollwerk des Friedens.

Das Kriegsgeschäft gehört seit dem Balkankrieg zum europäischen Alltag und deshalb muss die europäische Heimatfront zu einem homogenen Bollwerk geformt werden. Da ist die Kür von EU-„Kulturhauptstädten“ wichtiger denn je. Denn Krieg, das wusste Hitler schon, kann nur führen, wer die eigenen Bürger hinter sich weiß. Also braucht es Beweise für die Einheitsfront braver EU-Bürger. Seit 1985 gibt es mittlerweile über 50 Städte, die diesen Beweis als „Kulturhauptstädte“ vorzeigen wollten.

Natürlich geht es in diesem Städtewettkampf auch um viel Geld. Die Projektleiterin von „Kulturhauptstadt Ruhr 2010“, Katja Aßmann: „Die Kunst ist eigentlich, die Kulturhauptstadt nicht nur als Marketingmaschine zu sehen, sondern zu nutzen, um nachhaltige Veränderungen für die Städte und ihre Bewohner zu lancieren. Dabei ist es vor allem wichtig, die Menschen von den Ideen zu überzeugen, sie mitzunehmen und für Neues zu öffnen. Das Bauprogramm kommt dann fast wie selbstverständlich.“ Da freuen sich die Baulöwen!

Für „Ruhr 2010“ zahlten allein das Land und die EU 120 Millionen Euro für den Umbau des Dortmunder und Essener Bahnhofs. Viele Bauprojekte sollten 2013 auch in Marseille die „europäische Idee“ vergegenständlichen. Bauprojekte von bisher unbekanntem Ausmaß entstanden, wie das „Euromeditérranée“, ein Businessviertel im Stadtteil La Joliette, oder die Umgestaltung der Hafenpromenade. Über deren Folgeerscheinungen drehte die Rapperin Keny Arkana den Dokumentarfilm „Marseille, die zerrissene Hauptstadt“ (Youtube). Die Anwohner, so der Film, können nun die explodierenden Mieten nicht mehr zahlen. Menschen würden aus dem Stadtzen­trum in den nördlichen Randbezirk vertrieben. So kam die Wirklichkeit trotz des irrationalen Einheitsgeschwafels zum Vorschein. Oder die ungarische Stadt Pécs. Sie wurde 2010 „Kulturhauptstadt“. Hier wurde das Zsolnay-Viertel neu geschaffen. Es liegt außerhalb des Stadtkerns, kein Pécer würde so weit laufen, um Kaffee zu trinken. So gleicht das Viertel heute einer Geisterstadt.

Nebenbei bemerkt: Das Geld, das die EU an die Städte verteilt, haben diese im Vorfeld als Steuer über die Landesregierungen bei den Kommunen abgegriffen. Dadurch, dass für 2025 in Deutschland acht Städte in Konkurrenz um diesen Titel kämpfen, werden sie auf ihren Städtetagen wohl kaum solidarisch gegen die Bundesregierung auftreten, die ihnen immer mehr Steuereinnahmen nimmt und sie dadurch in die Schuldenfalle treibt, der häufig die Privatisierung öffentlichen Eigentums folgt.

Neben Hannover bewerben sich 2025 auch Hildesheim, Dresden, Nürnberg, Chemnitz, Gera, Magdeburg und Zittau um den Titel „Kulturhauptstadt Europas“. Bereits der Titel ist eine Lüge, die den Irrationalismus des Ganzen tarnen soll. Denn wohl kaum wird Moskau, das objektiv zu Europa gehört, den Titel verliehen bekommen. Oder?

Träger und Vermittler des EU-Irrationalismus sind allerorten durchaus auch viele ehrliche Künstler, beziehungsweise Kunstmanager. Sie sollen als unverdächtige Friedensengel agieren und einen Kulturbegriff pflegen, der ökonomische Interessen einfach ausklammert. Die Theater, Konzerthäuser und Künstler, die es gewohnt sind bei Behörden zu betteln, legen sich kräftig ins Zeug, um mit flotten Programmen die Bevölkerung für „Europa“ und natürlich für sich zu gewinnen, um so an „Knete“ zu kommen. Die Bewerberstädte müssen 2019 der EU-Kommission ihre Pläne vorlegen. Zu diesem Zweck gründeten sie „Kulturhauptstadtbüros“, die von den Städten in der Hoffnung finanziert werden, dass der Geldregen der EU auf sie fällt. Chancen bei dieser Bewerbung haben sicher nur die Städte, die kapiert haben, was der Zweck dieses Wettbewerbs eigentlich ist!

Der Beschluss Nr. 445/2014 der EU nennt ihn deutlich: „Es ist wichtig, dass die betreffenden Städte in ihrem gesamten Veröffentlichungsmaterial deutlich hervorheben, dass die durch diesen Beschluss eingerichtete Aktion auf die Union zurückgeht.“ Und im Artikel 2 d) heißt es, „ … dass die Marketing- und Kommunikationsstrategie umfassend ist und aus ihr hervorgeht, dass die Aktion auf die Union zurückgeht“.

Damit ist der wichtigeste EU-Auftrag an die Städte genannt. Auch wenn einige Architekten und Bauunternehmer durch neue Aufträge reichlich belohnt werden von der EU, der Kern des Städtewettbewerbs ist die Vermittlung der Ideologie, die da lautet: Wir sind eine Einheit! So nennt die EU als Ziel der Initiative „Kulturhauptstädte Europas“: „Bei den Bürgerinnen und Bürgern Europas das Gefühl stärken, einem gemeinsamen Kulturkreis anzugehören“. Deshalb gab es 2010 auch einen „Kulturtag an Biertischen“ auf der gesperrten Ruhrgebietsautobahn A 40 oder den „Day of Song“ in allen Ruhrgebietsstädten mit abschließendem 65000-Stimmen-Konzert im Stadion auf Schalke.

Einige Städte, wie Hildesheim (Motto: „Rüben, Rosen und der Sinn des Lebens“), sind zu naiv, sie erkennen nicht den ideologischen Zweck der ganzen Aktion. Sie glauben tatsächlich, es gehe darum, zu zeigen, wie es der Stadtbevölkerung gelingt, sich mit lustigen Aktionen und Fahrradtouren mit der Landbevölkerung zu verbinden. Die Stadt Hannover hat von den acht Bewerberstädten bislang am besten begriffen, worum es der EU-Kommission geht. Die dortigen Macher gaben sich das Motto: „Hier! Jetzt! Alle für Europa!“ Gemeint ist die EU. Aber egal. Wichtig ist: Alle in der Stadt sollen das Abc des EU-Irrationalismus lernen. Sie sollen wie einst Horst Seehofer rufen: Wir sind ein „Kulturkreis“, der sich stolz gegen andere „Kulturkreise“ abgrenzen muss, um nicht von Russen, Chinesen, Afrikanern aufgefressen zu werden. Die Heimatfront soll in ihrem Glauben bestärkt werden, ein liebevolles europäisches Volk mit friedlichen, „grünen“, feministischen, freiheitlichen Werten zu sein, dessen Kriege keine Kriege sind, sondern allein der Verteidigung des „Kulturkreises“ dienen, der sich gern auf Goethe, Beethoven und Kant beruft.

Dass die Verdrängung der Wirklichkeit der kriegstüchtigen EU gelingen kann und der Irrationalismus große Teile der Intellektuellen und Künstler erfasst hat, ist deshalb möglich, weil der Kulturbegriff von der Ökonomie einfach getrennt wird und als belangloser „Weichspüler“ der Wirklichkeit für Kunst, Wissenschaft und Philosophie missbraucht wird, wodurch alles zur Beliebigkeit verkommt. Das kann bestens von denen ausgenutzt werden, die knallhart ihre ökonomischen Interessen und ihren Hunger auf Rohstoffe und billige Arbeitskräfte mit allen Mitteln gegen die Konkurrenz aus Ost und West durchsetzen wollen.

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"Rüben und Rosen", UZ vom 21. Juni 2019



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