Einstieg in oder Ersatz für Arbeitszeitverkürzung? Tarifrunde Metall- und Elektroindustrie 2018

Rütteln an der Friedhofsruhe

Von Achim Bigus

Die Tarifkommissionen und der Vorstand der IG Metall stützen sich auf Ergebnisse der bundesweiten Beschäftigtenbefragung in diesem Frühjahr berufen. 680000 Arbeitende aus allen von der IG Metall vertretenen Branchen nahmen teil, darunter 38,1 Prozent Nichtmitglieder. Einige Ergebnisse:

  • Für 47,7 Prozent ist die 35-Stunden-Woche die „Wunscharbeitszeit“;
  • Der Aussage „Es wäre gut, vorübergehend die Arbeit absenken zu können“ stimmen 82,3% zu oder eher zu;
  • 57,1 % erklärten, sie würden gerne weniger arbeiten, könnten sich dies finanziell aber nicht leisten;
  • 29 % der Teilzeitbeschäftigten (zu 81,1 % Frauen) würden gerne ihre Arbeitszeit aufstocken, aber ihr Unternehmer lehnt dies ab;
  • 90,1 % aller Befragten fänden für Teilzeitbeschäftigte ein gesetzliches Rückkehrrecht auf Vollzeit wichtig oder eher wichtig;
  • Arbeitende in Schichtarbeit (im Westen 30,2%, im Osten 56,1 %) waren deutlich weniger zufrieden mit ihrer Arbeitszeit als solche ohne Schichtarbeit.

Erstmals seit 15 Jahren haben die regionalen Tarifkommissionen der IG Metall neben der Forderung nach 6 Prozent mehr Entgelt auch Forderungen zu den Arbeitszeitregelungen in den Manteltarifverträgen aufgestellt:

  • Alle IG Metall-Mitglieder sollen einen Rechtsanspruch bekommen auf eine „Wahloption“ für „kurze Vollzeit“: Verkürzung der individuellen regelmäßigen Wochen-Arbeitszeit auf bis zu 28 Stunden für bis zu zwei Jahre, wobei die abgesenkten Stunden zu Freischichten oder längeren Freizeitblöcken gebündelt („verblockt“) werden können;
  • Wie bei Teilzeit bezahlen diese „kurze Vollzeit“ zunächst die Arbeitenden selbst durch entsprechenden Lohnverlust – aber anders als im Teilzeit- und Befristungsgesetz soll es ein Rückkehrrecht auf Vollzeit geben;
  • Für alle, welche diese „kurze Vollzeit“ in Anspruch nehmen zur Betreuung von Kindern, zur Pflege von Angehörigen oder zur Entlastung bei besonders belastenden Arbeitszeiten wie Schichtarbeit soll es zudem einen Teil-Entgeltausgleich geben – nicht einkommensabhängig, sondern als Festbetrag, um besonders die unteren Entgeltgruppen vor zu hohen Lohnverlusten durch die kürzere Arbeitszeit zu schützen.

Zumindest der Vorsitzende der IG Metall verbindet diese Forderungen nicht mit der Perspektive einer weiteren Arbeitszeitverkürzung für alle: „Es geht schon lange nicht mehr um die weitere kollektive wöchentliche Arbeitszeitverkürzung. Stattdessen wollen wir den unterschiedlichen Lebenslagen der Menschen gerecht werden: Eltern haben andere Arbeitszeitansprüche als junge Leute, die gerade ausgelernt haben oder von der Hochschule kommen, oder Menschen, die Angehörige pflegen. Ältere wollen flexible Übergänge in die Rente. Mehr Selbstbestimmung und Flexibilität für die Beschäftigten sind unser Ziel.“

Trotz dieser eher bescheidenen IG Metall-Position erklärt Gesamtmetall, die IG Metall habe mit der Kündigung der Manteltarifverträge die „Büchse der Pandora“ geöffnet. Die Forderung nach Teil-Entgeltausgleich für Kindererziehung oder Pflege kommentiert Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger: „Mehr Geld für Nichtstun wird es mit uns nicht geben.“

Schon in die erste Verhandlungsrunde starteten die Unternehmerverbände mit massiven Gegenforderungen, was eher ungewöhnlich ist. Vor allem wollen sie die Möglichkeit, in Einzelarbeitsverträgen längere Arbeitszeiten zu vereinbaren, heute begrenzt auf 18 Prozent der Belegschaft, auf alle Beschäftigten ausweiten – also faktisch nicht weniger als die Aufhebung der kollektivvertraglichen 35-Stunden-Woche durch die einzelvertragliche Hintertür.

Die Dauer sachgrundloser Befristungen wollen sie per Tarifvertrag erweitern. Als Krönung fordern sie ein „gemeinsames Zugehen auf den Gesetzgeber mit dem Ziel einer Anpassung des Arbeitszeitgesetzes“, also Unterstützung der IG Metall für ihre Forderungen nach Kürzung der Ruhezeiten und danach, „dass die tägliche durch eine wöchentliche Maximalarbeitszeit ersetzt… wird“.

Margareta Steinrücke (attac), Koordinatorin der Initiative „Arbeitszeitverkürzung jetzt“, sagte auf der Arbeitszeitkonferenz der DKP, „durch die Forderungen der IG Metall“ habe das Thema 30-Stunden-Woche oder Kurze Vollzeit „neue Aktualität gewonnen“. Diese Einschätzung bestätigen auch meine Erfahrungen in Diskussionen der letzten Monate, sowohl unter den Vertrauensleuten im „eigenen“ Betrieb als auch auf überregionalen IG Metall-Konferenzen. Das Thema „Arbeitszeit“ rückt wieder auf die tarifliche Tagesordnung – das öffnet die Tür für Diskussionen um weitergehende Forderungen, besonders vor dem Hintergrund der mit „Industrie 4.0“ und anderen Veränderungsprozessen z. B. in der Autoindustrie drohenden Arbeitsplatzverluste. Hängt die aggressive Reaktion von Gesamtmetall vielleicht auch damit zusammen, dass ihnen diese „Gefahr“ klarer ist als manchen innerhalb der IG Metall?

Steinrücke bewertete die IG-Metall-Forderungen auch als Ende einer langjährigen „relative(n) Friedhofsruhe in der Frage Arbeitszeitverkürzung“. Zu den Ursachen der „Friedhofsruhe“ gehört die Niederlage beim Versuch, 2003 die Arbeitszeit in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie an die 35-Stunden-Woche im Westen anzugleichen.

Auch die sinkende Tarifbindung und das immer stärkere Auseinanderklaffen zwischen tariflicher und untertariflicher Arbeitswelt spielen eine Rolle. Bürgerliche Leitartikler machen damit mobil gegen die IG Metall: „In der Pflege bauen Beschäftigte angesichts knapper Personalschlüssel Überstunde um Überstunde auf, zwei freie Wochenenden im Monat sind da schon Luxus. Ihnen müssen die Forderungen der IG Metall vorkommen wie aus einer anderen Welt. Umso mehr, als die Metaller für die kürzeren Arbeitszeiten auch noch einen Teillohnausgleich durchsetzen wollen. Und das, obwohl die Branche hierzulande mit die kürzesten Arbeitszeiten und höchsten Löhne und Gehälter aufweist. (Frank Specht im Handelsblatt, 14.11.2017)“

Solche Spaltungsmanöver zeigen, ebenso wie die Positionen von Gesamtmetall: Auch wenn die Forderungen „bescheidener“ sind als 1984, wird doch, ähnlich wie 1984, für einen Erfolg der IG Metall mehr gesellschaftliche Bewegung und Unterstützung notwendig sein als in einem „normalen“ Tarifkonflikt. Bei aller Kritik an der Beschränktheit der Forderungen sollte darum allen Linkskräften klar sein: Erfolg oder Misserfolg der IG Metall in der Tarifbewegung 2018 werden mit darüber entscheiden, ob in die gesellschaftliche Diskussion um Arbeitszeiten neue Bewegung hineinkommt oder ob wieder „Friedhofsruhe“ einkehrt.

Vorabdruck aus „Marxistische Blätter“ 1/2018

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"Rütteln an der Friedhofsruhe", UZ vom 15. Dezember 2017



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