Günter Pohls „Das Mädchen auf dem Ei“: Anreize zum selbstständigen Denken

Trickreiche Dialektik

Myop und Noem sind zurück. Auch in Günter Pohls zweitem Buch „Das Mädchen auf dem Ei“ spazieren die beiden Rheinländer mit den verräterischen Namen durch die Philosophiegeschichte. Pohl setzt damit seine Reihe „Von der Ordnung der Welt“ fort. Wie schon im ersten Band verlässt er sich auf die aufklärerische Kraft des freundlichen Gesprächs, gibt seinen Protagonisten Raum für einen ebenso erkenntnisreichen wie unterhaltsamen Dialog.

Über allem schwebt der Kampf gegen den Irrationalismus, den Noem als Bedingung für das Ringen um gesellschaftlichen Fortschritt betrachtet, „denn der Irrationalismus ist immer unsozial“. Zugleich ist er die Grundvoraussetzung für die scheinbare Befriedung der Klassengesellschaft und damit Wesensmerkmal einer Ideologie, mit der die Minderheit über die Mehrheit herrscht. Dass diese schon im ersten Band geprägte Einsicht nichts von ihrer Aktualität verloren hat, zeigen Pohls Protagonisten plastisch, wenn sie über den irrationalen „grünen“ Kampf gegen russische Pipelines diskutieren, der im massiven Import des extrem schädlichen Frackinggases endete. Im Namen des Klimaschutzes werden die natürlichen Lebensgrundlagen untergraben, im Zeichen des Pazifismus Kriege geführt und an Gerechtigkeit geglaubt, wenn verschärfte Ausbeutung vorbereitet wird. Schützenhilfe leistet eine akademisch verwirrte Linke, die die schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus moralisch verurteilt, aber die Nase rümpft, wenn es um die ehemalige und die aktuelle sozialistische Praxis geht.

Die Widerstände, auf die Myop und Noem auf ihrem Streifzug für die Vernunft treffen, sind also beträchtlich. Doch wer glaubt, dass die beiden an der Größe der Aufgabe verzweifeln würden, kennt die Rheinländer schlecht. Mit Humor und einer gehörigen Prise Gelassenheit machen sich die Protagonisten daran, die Welt zu ordnen. Ausgerüstet sind sie mit den Werkzeugen einer dialektisch-materialistischen Philosophie, die nicht nur erkennen, sondern verändern will.

Eine wichtige Rolle spielt erneut der französische Aufklärer und Enzyklopädist Denis Diderot (1713 – 1784), der auch die unkonventionelle Herangehensweise Pohls inspiriert haben dürfte. Das belegen nicht nur die Stellen, an denen sich Myop und Noem selbstironisch an die Lesenden wenden, von ihren Lesungen erzählen oder die Vorzüge ihres hübsch aufgemachten Buches preisen. Diderots Einfluss zeigt sich auch an der breiten Themenpalette, die mit überraschenden Fakten aufwarten kann. Leserinnen und Leser erfahren nicht nur, warum Glas korrodiert, sondern auch wie viele Stellen der Kreiszahl Pi berechnet werden können oder wann mit der Auflösung der FDP zu rechnen ist. Sie lernen, was Individualismus mit Unterwerfung zu tun hat und weshalb der Kathedralenbau ein Vorbild sein kann. „An der Verflechtung der Wurzeln und der Zweige“, wird Diderot zitiert, zeige sich, „warum es unmöglich ist, einzelne Teile des Ganzen gut zu kennen, ohne auf viele andere zurückzugreifen“.

Das ist nur konsequent, lieferte doch der erste Band die Erkenntnis, dass alle Dinge in ihren Zusammenhängen betrachtet werden müssen. „Das Sein ist das Werden des Ganzen“, hatte Noem es formuliert. Davon ausgehend rücken nun die Gesetzmäßigkeiten der Bewegung in den Mittelpunkt und die eng damit verwobene Frage, wie Philosophie politisch wird. Letzteres gelingt am eindrucksvollsten, wenn es nicht erklärt, sondern nebenbei demonstriert wird. Hatten Myop und Noem im Vorgänger festgestellt, dass auch ein in bester Absicht aufgenommenes Foto stets eine Lüge beinhaltet, weil entscheidende Informationen fehlen, so sprechen sie nun über die Wirkmacht von Bildern, „die den Rahmen abgeben, der noch Jahrzehnte später wichtig ist und Politik bestimmen kann“. Als Beispiele dienen die Mondlandung oder der Atompilz über Hiroshima. Der Sprung von der Erkenntnistheorie zur politischen Bildung pustet den Studierzimmerstaub aus dem Kopf, bevor er sich festsetzen kann.

Doch eine revolutionäre Philosophie muss mehr leisten. Sie muss die Brüche erklären, die Umwälzungen und Sprünge im historischen Prozess. Und sie muss verstehen helfen, wie es passieren konnte, dass mit dem Niedergang des Sozialismus das Rad der Geschichte zurückgedreht wurde. Myop und Noem nähern sich diesem Themenfeld gleich von mehreren Seiten. Sie sprechen über die trickreiche Dialektik, von der zu oft vergessen wird, dass nicht nur das Neue ins Alte, sondern auch das Alte in das Neue hineinwirkt. Sie suchen nach Entwicklungsgesetzen und werden in der Physik fündig, die sich mit dem Wandel von Aggregatzuständen befasst. Reine Metalle, so lernen wir, wechseln schlagartig vom einen in den anderen. Legierungen haben einen Schmelzbereich „mit einer Mischform von fest und flüssig – ein Brei.“

Breiig ist auch Myops Seelenverfassung, der unglücklich verliebt in eine komplizierte Situation geraten ist. Während der Lektüre reift die Erkenntnis, dass es mit der Liebe und der Revolution so eine Sache ist. Beide mögen großartig sein, doch existieren sie nur selten in Reinform. Oft bedürfen sie eines langen Prozesses und einer permanenten Verteidigung. Das mögliche Ende mitzudenken kann helfen. Ebenfalls hilfreich ist es, „Das Mädchen auf dem Ei“ zu lesen. Günter Pohl liefert Anreize zum selbstständigen Denken und Erklärungen, wo es notwendig ist. Myop und Noem bringen die grauen Zellen in Bewegung, erfreuen mit amüsanten Wortwechseln und überraschenden Verknüpfungen. Dem Hauptthema angemessen, geschieht das nicht bruchlos. Ein leises „Ja, aber …“ im Kopf gehört zur Lektüre dazu. Doch wer hofft schon ernsthaft auf ein Vorankommen ohne Widersprüche?

Günter Pohl
Das Mädchen auf dem Ei
254 Seiten, Hardcover, Faden­bindung, Leinen, Lesebändchen, 24,– Euro
Erhältlich im UZ-Shop
Weitere Infos zum Buch auf VdOdW.de

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"Trickreiche Dialektik", UZ vom 26. Mai 2023



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