Viele Möglichkeiten, viele Gefahren

Das Gespräch führte Olaf Matthes

UZ: Wenn man hier die Zeitung aufschlägt, bekommt man meist den Eindruck vermittelt: Die Opposition in Venezuela wird immer stärker, das Regierungslager verliert an Rückhalt.

Carolus Wimmer: Diese Taktik ist nicht neu, das wurde in den letzten 16 Jahren, seit dem ersten Wahlsieg Chávez‘, schon so gemacht: Vor den Wahlen wird erklärt, dass die Opposition erstarkt – damit man dann sagen kann, wenn die Opposition die Wahlen verliert: Das war ein Wahlbetrug. Die Opposition sagt jetzt schon offen: Wir haben die Parlamentswahlen, die am 6. Dezember stattfinden werden, schon gewonnen, wenn sich daran etwas ändern würde, wäre das ein Wahlbetrug von der Regierungsseite. Und das wird von den internationalen Medien dann propagiert.

UZ: Trotzdem gibt es in der Bevölkerung Unzufriedenheit – auch wegen der wirtschaftlichen Probleme.

Carolus Wimmer: Es gibt viel Verständnis in der Bevölkerung. Es geht in Venezuela ja objektiv nicht nur darum, eine neue Regierung zu verteidigen, sondern darum, aus dem kapitalistischen System rauszukommen. Und die Diskussion darüber, die Sozialismusdiskussion, wird im Volk geführt. Das politische Bewusstsein hat sich verstärkt, und das heißt auch, dass die Menschen mehr fordern von der Regierung, von den verantwortlichen Leuten, auch von den Parteien. Das ist das Wichtigste, dass nichts als gegeben angenommen wird, dass gesunde Kritik geübt wird, dass immer mehr gefordert wird.

Die Leute wollen nicht einfach, dass die Regierung die Probleme löst, sie wollen in die Lösung der Probleme einbezogen werden. Sie wollen mehr partizipative Demokratie. Die Kritik richtet sich natürlich auch gegen die noch herrschende Korruption, gegen Bürokratie und Ineffizienz auf den verschiedenen Ebenen der Regierung und der Staatsbetriebe usw. Wir – ich spreche als Kommunist, als Vertreter der PCV – wir halten das für nötig und für gut, dass das Volk aktiv wird. Die Gefahr ist nicht, dass die Kritik und der Kampf weiter bestehen, die Gefahr ist, dass das Interesse des Volkes am Kampf und an der Kritik schwächer werden könnte.

Deshalb müssen wir für eine Regierung kämpfen, an der die Arbeiterklasse wirklich teilnimmt. Einen Sozialismus ohne direkte Macht der Arbeiterklasse können wir uns nicht vorstellen, da gibt es noch viel zu tun. Die Hauptaufgabe der kommunistischen Partei ist es, mit der Arbeiterklasse zu arbeiten, durch eine klassenbewusste Gewerkschaftsarbeit zum Beispiel. Natürlich sehen wir, dass eine Revolution eine starke kommunistische Partei braucht, eine marxistisch-leninistische Partei. In dieser Hinsicht haben wir unsere eigene, besondere Verantwortung.

UZ: Du hast die Diskussion über den Sozialismus angesprochen. Was ist der Beitrag der PCV in dieser Diskussion?

Carolus Wimmer: Wir befinden uns in der Etappe des antiimperialistischen Kampfes. Wir haben Bündnispartner, die im Moment noch nicht vom Sozialismus überzeugt sind, die aber mit uns für die nationale Unabhängigkeit und gegen die Gefahr eines militärischen Eingreifens des Imperialismus in Venezuela kämpfen. Wir diskutieren diese Fragen sowohl in unserer Partei als auch mit unseren Bündnispartnern und in den sozialen Bewegungen. Wir führen diese Diskussion auf Grundlage der Prinzipien unserer Partei, aber ohne Dogma. Aber wir passen auch auf, dass jeder an dieser Diskussion teilnehmen kann – alles andere würde die breite Bündnispolitik stören.

Dank Chávez ist die Diskussion über den Sozialismus wirklich unter das Volk gekommen. Das wird heute noch dadurch verstärkt, dass der Staat massiv marxistische und leninistische Literatur drucken lässt. Ich erinnere mich z. B., dass Maduro einmal gesagt hat: Ohne „Staat und Revolution“ von Lenin kann man die Bolivarianische Revolution nicht verstehen.

UZ: Ihr führt intensive Diskussionen über die Erfahrungen der Unidad Popular in Chile. Welche Schlussfolgerungen zieht ihr daraus?

Carolus Wimmer: Natürlich gibt es Unterschiede zwischen unserer Situation und der der Unidad Popular. Aber eine Schlussfolgerung ist: Wir brauchen eine Bündnispolitik mit Prinzipien und mit Geduld, das ist ja etwas, was in Chile am Schluss gefehlt hat. Und gleichzeitig sind wir uns als Partei darüber im Klaren, dass wir nicht darauf vertrauen können, dass es auf ewig eine bürgerliche Demokratie geben wird, und unser Kampf könnte plötzlich ein illegaler Kampf werden, wie in Chile. Da kam ja von der ganzen Linken die Kritik, die haben da immer nur an die bürgerliche Demokratie geglaubt. Aus Chile müssen wir lernen und aus so vielen anderen Erfahrungen. Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass ein Putsch kommen kann, dass es einen militärischen Eingriff der USA geben kann, und dann soll doch die Partei noch irgendwie funktionieren.

UZ: Venezuela ist nach wie vor vom Weltmarkt für Erdöl abhängig. Ihr erlebt zur Zeit, dass Unternehmer ihre Produkte zurückhalten, um damit der Regierung Probleme zu bereiten. Und ihr erlebt eine massive Spekulation gegen die venezolanische Währung. Heißt das nicht, dass auch radikale wirtschaftliche Veränderungen nötig sind, um die Unabhängigkeit Venezuelas zu verteidigen?

Carolus Wimmer: Genau. Man muss sich immer klar machen, dass – wie man so sagt – der Klassenfeind mit allen Waffen angreifen wird. Der Imperialismus und die Bourgeoisie kämpfen nicht für eine bessere Demokratie oder für weniger Korruption, sondern für den Sturz der Regierung und für das totale Ende des Versuchs einer neuen, vom Volk getragenen Demokratie. Es ist ausschlaggebend, dass man sich sowohl kurzfristige als auch langfristige Ziele setzt. Die jetzige Regierung ist keine revolutionäre Regierung. Das Optimale können wir nicht sofort erreichen. Aber die Lage unter der jetzigen Regierung bietet uns als PCV viele Möglichkeiten: Wir haben mehr Freiheiten für die politische Arbeit, der Antikommunismus ist zurückgegangen, wir kommen sehr viel leichter ins Gespräch mit Arbeitern. Und wir können mit Vorschlägen und mit Kritik Einfluss auf die Regierungsarbeit nehmen.

Zum Beispiel haben wir vor Monaten gesagt, dass der gesamte Import von der Regierung geleitet wird. Bisher konnten die Unternehmer Devisen für ihre Importgeschäfte bekommen, aber teilweise sind diese Devisen verschwunden, teilweise wurden Waren importiert, die wirklich nicht nötig waren. Und jetzt hat die Regierung eine staatliche Kontrolle über die Devisenausgaben eingeführt.

UZ: Ihr habt in Venezuela eine neue Verfassung eingeführt, ihr habt im politischen System viel verändert. Aber zeigen die Korruption und die Ineffizienz im Staatsapparat nicht auch, dass sich dort an bestimmten Punkten gar nicht so viel verändert hat?

Carolus Wimmer: Wir sind nicht immun gegen Korruption. Aber die jetzige Regierung und der Präsident Maduro erkennen die Korruption als eine große Gefahr, und das wird immer mehr gerichtlich und im Rahmen der Verfassung angegriffen und korrigiert. Und: Wir haben noch keine sozialistische Revolution. Das Kräfteverhältnis in Venezuela lässt es auch nicht zu, dass wir bestimmte Maßnahmen treffen, die in anderen Revolutionsprozessen getroffen wurden. Diese Probleme zu lösen, das sind Aufgaben für die Zukunft, wenn die Arbeiterklasse die Macht hat. Im Moment wird die Regierung noch hauptsächlich von den kleinbürgerlichen Kräften getragen. Das ist in dieser Phase einfach die Realität, da kann man nicht sagen, das ist gut oder schlecht. Und darum sagen wir als Partei: Wir brauchen wirklich die Arbeiterklasse, weil die auch andere Ziele vor Augen hat und andere Prinzipien verteidigt als die kleinbürgerlichen Kräfte.

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"Viele Möglichkeiten, viele Gefahren", UZ vom 26. Juni 2015



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