Im Windschatten der von Israel und den USA entfachten Eskalation mit dem Iran dauern der Gazakrieg und die humanitäre Katastrophe an. Die schrecklichen Zustände seien „gänzlich vermeidbar“, es seien „Bedingungen, die geschaffen wurden, um zu töten“, sagte am Montag der Leiter des UN-Koordinierungsbüros für humanitäre Hilfe (UN-OCHA) in den besetzten palästinensischen Gebieten, Jonathan Whittall. Bewusst und systematisch werde die Nutzung bewährter UN-Systeme unterbunden. Ohne die israelischen Beschränkungen wäre man in der Lage, wie in der Vergangenheit jede Familie in Gaza zu erreichen. „Fast täglich“ würden Menschen auf der Suche nach Nahrung getötet, weil das israelische Militär immer wieder das Feuer auf diejenigen eröffne, die Lebensmittel in Empfang nehmen wollten. Auch das mit dem Schutz von Hilfskonvois betraute Personal werde beschossen. Krankenwagen kämen nicht in die bewusst in militarisierten Zonen eingerichteten Verteilzentren.
Nach Angaben des Kinderhilfswerks UNICEF werden seit Jahresbeginn jeden Tag im Schnitt 110 Kinder wegen Unterernährung eingeliefert. Mehr als 71.000 seien akut von Mangelernährung bedroht. Sechs Monate alte Kinder wögen so viel wie Neugeborene. Ein eingelieferter Einjähriger habe nur noch vier Kilo gewogen, obwohl in seinem Alter das Normalgewicht bei zehn Kilo liege. Nirgends auf der Welt gebe es im Verhältnis zur Bevölkerungszahl so viele Kinder mit amputierten Gliedmaßen. Seit Oktober 2023 sind nach offiziellen Angaben über 50.000 Kinder im Gazastreifen verletzt oder getötet worden. Mehr als 4.000 warten mit schwersten Verletzungen oder Erkrankungen auf ihre medizinisch notwendige Evakuierung. Auf inzwischen nur noch 17 Prozent der Küstenenklave ist die Bevölkerung inzwischen zusammengepfercht – ohne ausreichend Trinkwasser, Nahrungsmittel und Medikamente. Tausende Lastwagen mit lebenswichtigen Gütern stecken wegen der israelischen Vollblockade an der Grenze zum Gazastreifen fest.
Vergangene Woche warnte UNICEF, Gaza stehe vor einer von Menschen gemachten Dürre, da die Wassersysteme unter den anhaltenden israelischen Bombardierungen zusammenbrächen. Nur 40 Prozent der Trinkwasseranlagen seien noch funktionsfähig, demnächst würden Menschen nicht „nur“ verhungern, sondern auch verdursten. Die israelische Armee hat große Teile der Wasser- und Sanitärstruktur im Gazastreifen gezielt zerstört. Da Treibstoff und Ersatzteile fehlen, sind die verbleibenden Anlagen nicht funktionsfähig. Krankheiten wie die hoch ansteckende und potenziell tödliche Hepatitis A breiten sich aus.
Auch in den vergangenen Tagen sind wieder Hungerleidende in der Nähe von Verteilzentren getötet worden, die von der US-amerikanisch-israelischen „Gaza Humanitarian Foundation“ (GHF) betrieben werden. Angeblich eröffneten die Soldaten das Feuer, weil sie sich „bedroht gefühlt“ hätten. Um die 400 Menschen sind nach Angaben der Vereinten Nationen seit Ende Mai in den von Israel ausgewiesenen Hilfszonen der GHF getötet worden, über 3.000 weitere wurden demnach verletzt. Der geschäftsführende Direktor der Stiftung, der US-Militärveteran Jake Wood, ist Ende Mai, kurz nachdem die GHF ihre „Arbeit“ in Gaza aufnahm, zurückgetreten, weil es nicht möglich sei, die geplanten Einsätze nach den humanitären Prinzipien der Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit durchzuführen. Hilfsorganisationen kritisieren, die Einrichtung von Verteilzentren ausschließlich im Süden des Gazastreifens diene dazu, die Bevölkerung aus dem Norden zu vertreiben. Die Menschen stünden vor der Wahl, zu verhungern oder ihre Wohnorte zu verlassen. Die NGO Trial International hat bei der Schweizer Regierung Beschwerde gegen die GHF eingelegt. Und tatsächlich haben die Behörden Ermittlungen eingeleitet, weil die in Genf gemeldete Stiftung weder ein Bankkonto noch Mitglieder mit Wohnsitz in der Schweiz habe.
Ernste Konsequenzen seitens des Westens und insbesondere Deutschlands muss Israel indes nicht befürchten. Zwar kommt ein in der vergangenen Woche veröffentlichter interner Prüfbericht der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas, der den Mitgliedstaaten übermittelt wurde und dessen Erstellung der EU-Außenministerrat im Mai mit großer Mehrheit beschlossen hat, zu dem Schluss, Israel verstoße mit seinem Vorgehen im Gazastreifen gegen die Grundprinzipien des EU-Israel-Assoziierungsabkommens, darunter die Achtung der Menschenrechte. Die Bundesregierung weigert sich aber dennoch, für eine Suspendierung des Abkommens, die nur einstimmig erfolgen kann, zu votieren. Sogar die Erstellung des Berichts hatte Berlin abgelehnt.