Vor neuen Kriegen

Von Nina Hager

In Frankreich gilt der Ausnahmezustand – für drei Monate. Viele Großveranstaltungen, so auch die geplante Demonstration anlässlich des Weltklimagipfels sind verboten. Die Leute sollen zu Hause bleiben. In Brüssel wurde am vergangenen Wochenende die höchste Terrorwarnstufe ausgerufen. Soldaten und schwer bewaffnete Polizisten patrouillieren dort – wie in Paris und anderen französischen Städten – auf den Straßen. Doch zumindest die Schulen sollten dort am Mittwoch wieder geöffnet werden, auch U-Bahnen wieder fahren.

Die Suche geht weiter. Weder die „Drahtzieher“ der Pariser Anschläge noch ihre eigentlichen Hintermänner sind bislang gefasst – trotz verstärkter und auch grenzübegreifender Fahndungsmaßnahmen. Kaum diskutiert wird, warum ausgerechnet junge Menschen aus den Pariser und Brüsseler Vorstädten, also aus sozialen „Brennpunkten“, sich durch den IS rekrutieren lassen oder wer tatsächlich dafür verantwortlich ist, dass solche Organisationen wie der „Islamische Staat“ überhaupt entstehen konnten und warum sie auch militärische Erfolge haben …

Warum wohl geraten in diesem Zusammenhang eigentlich nicht auch dessen saudische, kuwaitische und anderen Finanziers – alles „Partner des Westens“ – sowie die Abnehmer des in den vom IS eroberten Gebieten geförderten Rohöls, die auch in Europa zu finden sind, in das Blickfeld, warum wohl gibt es keine Anstrengungen, diese Finanzierungsquellen zu kappen? Weil auch hierzulande die Rüstungskonzerne an den Waffenexporten vor allem nach Saudi Arabien verdienen? Der IS besitzt keine Rüstungsbetriebe. Vor allem aber, weil die USA und ihre Verbündeten an einer weiteren Destabilisierung dieser Region im Interesse der Durchsetzung eigener Interessen interessiert sind?

Stattdessen wird vom „Kampf der Kulturen“ geschwätzt – Menschen muslimischen Glaubens und vor allem die nach Europa kommenden Flüchtlinge geraten unter Generalverdacht. Die ersten Opfer des IS waren Bürgerinnen und Bürger des Irak und Syriens.

Auch in Deutschland werden weitere Verschärfungen des Asylrechts, schnellere Abschiebungen gefordert.

Und die gewollte Verunsicherung geht weiter: Die US-Regierung erklärte am Montag einen zeitlich begrenzten „Travel Alert“ (eine Reisewarnung) für alle Weltregionen; der „Islamische Staat“, Al-Kaida oder Boko Haram planten nach „Informationen“ weiter Anschläge „in vielen Regionen der Welt“, teilte das Außenministerium in Washington mit.

Erinnern wir uns: Nach den Anschlägen in den USA am 9. September 2001 hatte die US-Administration die Gelegenheit genutzt, Grundrechte massiv einzuschränken. Nur Wenige im Land protestierten. Angst und bewusst geschürte Verunsicherung „vor dem islamistischen Terror“ halfen, den Grundrechteabbau durchzusetzen. Nicht einmal zwei Jahre später griffen die USA und ihre Verbündeten den Irak an und stürzten die Regierung von Saddam Hussein. Der Irak ist heute ein destabilisiertes Land, ein zerfallener Staat. So wie Syrien, Afghanistan und andere Länder.

Jetzt sieht es so aus, dass die Angriffe auf die IS-Stellungen in Syrien und dem Irak forciert werden sollen. Frankreich hat bereits seine Angriffe in Syrien verstärkt, der britische Premierminister braucht noch die Zustimmung des Parlaments, damit man dort eingreifen kann. Und er kündigte an, die Ausgaben für die Geheimdienste und das Militär massiv zu erhöhen – für neue Kampfjets, Kampftrupps, die weltweit agieren können. Da werden neue Kriege vorbereitet …

In Deutschland wurde nach den Anschlägen in Paris bislang „nur“ ein Fußballspiel abgesagt, zu dem sich fast das halbe Kabinett um Bundeskanzlerin Merkel angesagt hatte, wurden Grenzkontrollen sowie die Polizeipräsenz im öffentlichen Raum und Kontrollen in Stadien verstärkt. Weitergehende Reisewarnungen gibt es nicht.

Doch die Situation wird genutzt: Im Zusammenhang mit den Ereignissen werden Forderungen nach einer noch wirksameren Überwachung – als gäbe es die Skandale um die NSA und den BND nicht –, nach „besserer“ Vorratsdatenspeicherung, nach der Begrenzung der Bewegungsfreiheit für sogenannte „Gefährder“ wieder lauter. Als hätten so weitgehende Befugnisse von Polizei und Geheimdiensten bislang irgendwo Anschläge verhindert.

Und der Bundeswehreinsatz im Inneren wird gefordert. Einige träumen wohl von durch die Straßen marschierenden schwer bewaffneten Soldaten. So unter anderem Bundesfinanzminister Schäuble, der kürzlich öffentlich die Frage stellte, ob nicht die Bundeswehr mit militärischen Mitteln die Gefahr von Deutschland abwenden könne, dass auch hier IS-Terroristen Anschläge begehen. – Noch lehnt der Bundesinnenminister das ab.

Dagegen ist man sich im Kabinett einig, die Zahl der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan wieder aufzustocken. Und der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Röttgen, hält eine deutsche Intervention gegen den „Islamischen Staat“ für unausweichlich. Bodentruppen soll es aber – vorerst – nicht geben. Noch wäre auch für Frau von der Leyen dafür ein UN-Mandat nötig.

Die nächste deutsche Kriegsbeteiligung kommt bestimmt …

Über die Autorin

Nina Hager (Jahrgang 1950), Prof. Dr., ist Wissenschaftsphilosophin und Journalistin

Hager studierte von 1969 bis 1973 Physik an der Humboldt-Universität in Berlin. Nach dem Abschluss als Diplom-Physikerin wechselte sie in das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR und arbeite bis zur Schließung des Institutes Ende 1991 im Bereich philosophische Fragen der Wissenschaftsentwicklung. Sie promovierte 1976 und verteidigte ihre Habilitationsschrift im Jahr 1987. 1989 wurde sie zur Professorin ernannt. Von 1996 bis 2006 arbeitete sie in der Erwachsenenbildung, von 2006 bis 2016 im Parteivorstand der DKP sowie für die UZ, deren Chefredakteurin Hager von 2012 bis 2016 war.

Nina Hager trat 1968 in die SED, 1992 in die DKP ein, war seit 1996 Mitglied des Parteivorstandes und von 2000 bis 2015 stellvertretende Vorsitzende der DKP.

Hager ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter, Mitglied der Marx-Engels-Stiftung und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

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"Vor neuen Kriegen", UZ vom 27. November 2015



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