Dachte sich die Bundesregierung und untergräbt das Rechtssystem

Warum auch nicht?

Elias Conte

Am 24. Juni 2021, nachts um 1.55 Uhr, hat die Große Koalition als eine ihrer letzten Amtshandlungen im gerade noch beschlussfähigen Bundestag, mit einem über 2.000 Jahre alten Prozessgrundsatz des Strafverfahrens aufgeräumt. Das Prinzip „ne bis in idem“ (Nicht zweimal wegen der selben Sache) kannten schon die Römer. Die Grundrechte-Charta der Europäischen Union sagt uns, was gemeint ist: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“ In Deutschland hatte dies bisher Verfassungsrang (Artikel 103 Absatz 3 Grundgesetz).

Eine juristische Selbstverständlichkeit – eigentlich. Generationen von jungen Juristen waren erleichtert, tauchte die Frage nach der Bedeutung dieses Grundsatzes in ihren mündlichen Examen auf. Galt doch: Eine eherne Wahrheit, ohne Einschränkung, unverbrüchlich, für jeden verständlich. Die guten Examenskandidaten wussten darüber hinaus: Nur im Nationalsozialismus wurde an diesem Prinzip geschraubt. Hier galt ein Freispruch oder eine Einstellung nichts, das Damoklesschwert neuer Verfolgung hing über jedem Davongekommenen. Mit der „Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 29. Mai 1943“ vernichtete die Nazi-Justiz die Rechtssicherheit: Rechtskräftige Freisprüche ließen sich beim Auftauchen „neuer Tatsachen und Beweismittel“ mit einem Federstreich beseitigen. Richter Roland Freisler, bis 1945 verantwortlich für 2.600 Todesurteile, wünschte sich in seinem Aufsatz („Deutsche Justiz“, 1937, Seite 732) schon lange vor 1943, dass mit den „formellen Hindernissen“ bei der Mehrfachverfolgung aufgeräumt werde müsse.

Das Grundgesetz zog als eindeutige Reaktion auf die Praxis der Jahre 1943 bis 1945 durch Artikel 103 Absatz 3 GG einen Schlussstrich. Wer einmal einem staatlichen Vorwurf entronnen war, sollte kein zweites Mal ein Strafverfahren über sich ergehen lassen müssen. 72 Jahre später wird nun einer der letzten übrig gebliebenen rechtsstaatlichen Anker des Strafverfahrens gelichtet. Besonders dreist: Die Neuregelung firmiert unter dem irreführenden Titel „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“. Da sich eine Zweidrittelmehrheit zur Änderung des Artikels 103 Absatz 3 GG im Parlament nicht finden ließ, formulierten die Großkoalitionäre kurzerhand Paragraph 362 Strafprozessordnung um. Und die Worte des neuen Gesetzestextes erinnern uns an die Vergangenheit. Das hatten wir doch schon mal: Eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens zu Ungunsten des Freigesprochen ist bei Vorliegen „neuer Tatsachen oder Beweismittel“ zulässig.

Zugegeben: Noch gilt der neue Paragraph 362 StPO nur bei Mordermittlungen. Das betrifft doch eh nur wenige, mag man meinen. Ein ausgewiesener Kenner der Materie, über viele Jahre Vorsitzender des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs, weiß es besser: „Jeder, der heute Eide schwört, es handle sich um eine ganz begrenzte Ausnahme, weiß genau, dass spätestens in zwei Jahren die nächsten Erweiterungen folgen werden. Warum auch nicht?“ (Thomas Fischer, Spiegel-Online vom 24. Juni).

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"Warum auch nicht?", UZ vom 2. Juli 2021



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