Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus – nicht nur für Einsteiger

Was ist Ausbeutung?

Ulf Brandenburg

In diesen Tagen wird die neue Ausgabe der „Marxistischen Blätter“ ausgeliefert. Das Heft widmet sich dem Thema „Marxismus – Nicht nur für Einsteiger“. Die Autorinnen und Autoren befassen sich mit den „zentralen Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus“. Dabei wurde großer Wert auf Verständlichkeit und Lesbarkeit gelegt. Wir drucken hier den gekürzten und redaktionell geringfügig bearbeiteten Beitrag von Ulf Brandenburg ab.

„Missbrauch auf Obstplantagen – Die Erntesklavinnen Europas“, „Harter Alltag auf dem Kreuzfahrtschiff“, „Moderne Lohnsklaven in Deutschland – Ackern im Akkord“. So oder so ähnlich lauten seit Jahren Schlagzeilen bei uns. Allenthalben wird von Ausbeutung gesprochen. Der „Deutschlandfunk“ bringt es am 7. Juli 2017 auf den Punkt: „Kellner, Zimmermädchen, Köche, auch Journalisten – um uns herum herrscht Lohnsklaverei. (…) Aber wo fängt Lohnsklaverei an?“

Diese Frage, in etwas anderer Formulierung, trieb die bürgerliche Politische Ökonomie über Jahrhunderte zur wissenschaftlichen Erforschung der wirtschaftlichen Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft. Sie wurde getrieben vom Problem der Kapitalverwertung, das heißt der Frage, wie aus einer (investierten) Wertsumme eine noch größere Wertsumme entstehen kann. Sie entdeckte den Wert als das Prinzip, das letztendlich den Austausch von Waren steuert, sie entdeckte, dass menschliche Arbeit den Wert schafft, sie entdeckte die kapitalistischen Klassen, aber sie scheiterte an dem Problem der kapitalistischen Ausbeutung, der eigentlichen Grundlage der Kapitalverwertung. Ja, sie musste daran scheitern! Erst Karl Marx konnte das Problem wissenschaftlich, das heißt auf der Grundlage der Arbeitswerttheorie lösen.

Um das zu verstehen, müssen wir uns zunächst angucken, wie Marx die kapitalistische Ausbeutung erklärt.

Wissenschaftliche Theorie

Marx geht zunächst von der Ware aus. Waren haben einen Doppelcharakter, haben zwei Seiten, nämlich „Gebrauchswerte“ oder „Gebrauchseigenschaften“ (so kann man mit einem Auto zum Beispiel fahren oder angeben) und den „Wert“ (der sich letztendlich in einem Preis ausdrückt, zum Beispiel 15.000 Euro für das Auto). Die Ursache der Gebrauchseigenschaften sind die physischen Eigenschaften der Ware (beim Auto also die Fähigkeit des Transports oder das schnittige Aussehen). Der Wert hingegen ist eine gesellschaftliche Eigenschaft, die durch die Menge an Arbeit bestimmt ist, die zur Produktion der Ware erforderlich ist. Beim Auto umfasst das neben der zuletzt geleisteten Arbeit des Zusammenbauens der Teile auch die vielen Arbeiten, die vorher geleistet werden müssen, zum Beispiel um den Motor herzustellen bis hin zum Abbau von Metallen aus Bergwerken. Der Wert einer Ware ist also die kumulativ geleistete Arbeit, die in einer Ware aufgrund ihres Herstellungsprozesses steckt, wobei jeweils nicht die individuelle Arbeitsleistung direkt berücksichtigt wird, sondern der typische, durchschnittliche, beim gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte nötige Arbeitsaufwand zählt. Es wird auch nicht die konkrete Arbeit berücksichtigt – also Schweißerarbeit, Lackiererarbeit und so weiter –, sondern der Vergleich läuft über „abstrakt menschliche Arbeit“, die die konkreten Arbeiten „hinter den Rücken der Produzenten“ auf gemeinsame menschliche Arbeit zurückführt. Dies ist die Arbeitswerttheorie, die schon die Vorgänger von Marx erarbeitet haben und zu der Marx die Unterscheidung zwischen konkreter und abstrakt menschlicher Arbeit beigetragen hat. (Diese Theorie lässt sich auch auf Dienstleistungen erweitern, die für andere erbracht werden. Der Hauptunterschied ist dann, dass Dienstleistungen kein vom Akt des Produzierens getrenntes physisches Produkt hinterlassen.)

Die Warenproduktion

Waren (und Dienstleistungen) werden nicht für den eigenen Gebrauch hergestellt, sondern für den Austausch gegen die allgemeine Ware Geld, mit der man dann wiederum die Waren (und Dienstleistungen) für seine eigene Reproduktion kaufen kann. Dabei werden grundsätzlich Waren gleichen Werts gegeneinander getauscht. Dies beschreibt einen Warenkreislauf. Marx symbolisiert diesen Kreislauf, in dem der Warenbesitzer letztendlich nur seine eigene Ware gegen eine andere tauscht, mit der Formel „Ware 1 – Geld – Ware 2“, was ausführlich bedeutet: „Ein Warenbesitzer tauscht seine Ware 1 gegen Geld, das er anschließend gegen eine Ware 2 tauscht.“ In Kurzform: W1 – G – W2.

Nun beschreibt Marx noch eine andere Kreislaufform, nämlich G – W – G’, wobei G’ (sprich: G-Strich) eine um einen bestimmten Betrag größere Summe G (Geld) als am Anfang bedeutet. Die am Anfang ausgegebene (oder investierte) Geldsumme G fließt also zu ihrem ursprünglichen Besitzer zurück, allerdings vergrößert. Die Wertsumme G hat sich „verwertet“. Diese Kreislaufform nennt Marx „Kreislauf des Kapitals“.

Die Arbeitskraft …

Doch woher kommt die Vergrößerung der Wertsumme G im Zuge des Kapitalkreislaufs? Wie kann man aus Wert mehr Wert machen, wenn beim Warentausch doch nur gleiche Werte getauscht werden, der Wert also gleich bleiben müsste? An diesem Widerspruch sind alle Versuche der wissenschaftlichen Vorgänger von Marx gescheitert. Marx schreibt: „Um aus dem Verbrauch einer Ware Wert herauszuziehn, müsste unser Geldbesitzer so glücklich sein, innerhalb der Zirkulationssphäre, auf dem Markt, eine Ware zu entdecken, deren Gebrauchswert selbst die eigentümliche Beschaffenheit besäße, Quelle von Wert zu sein, deren wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeit wäre, daher Wertschöpfung. Und der Geldbesitzer findet auf dem Markt eine solche spezifische Ware vor – das Arbeitsvermögen oder die Arbeitskraft.“

Die Ware in der Mitte des Kapitalkreislaufs G – W – G’ ist also die Ware „Arbeitskraft“. Diese Ware Arbeitskraft, die ist es, die wir alle auf dem Arbeitsmarkt anbieten müssen, um unsere Brötchen zu verdienen. Denn der überwältigende Teil unserer Gesellschaft hat keine Möglichkeiten mehr, selbst andere Waren herzustellen (wie zum Beispiel früher selbstständige Bauern), da er keine eigenen Mittel (Kapital, Grund und Boden, Produktionsmittel) dazu besitzt.

… eine eigenartige Ware

Wenden wir jetzt unsere Überlegungen zum Doppelcharakter der Ware von eben auf diese neue Ware „Arbeitskraft“ an, zum Beispiel die Arbeitskraft einer Laborantin. Ihre Gebrauchseigenschaft für den Käufer ist, dass sie durch ihre Arbeit Wert schafft. Ihr Wert ist bestimmt durch die Menge an (durchschnittlich gesellschaftlich notwendiger) Arbeit, die zu ihrer Produktion erforderlich ist. Welche Arbeit ist für die Produktion der Arbeitskraft der Laborantin notwendig? Das ist einmal die Arbeit, die zur Herstellung ihrer Arbeitsfähigkeiten nötig ist. Sie benötigt ein Minimum an Ausbildung. Aber auch die Laborantin selbst, die Trägerin der Arbeitskraft, muss im Folgenden jeden Tag wieder zur Arbeit fähig sein. Sie muss ihre Kräfte also ständig reproduzieren. Dafür sind Wohnen, Kleidung, Lebensmittel notwendig. Sie muss zum Arbeitsplatz und wieder zurück kommen. Die Arbeit, die in der Herstellung der Wärme der Wohnung, der Kleidung, der Lebensmittel steckt, die die Laborantin täglich verbraucht, geht ebenfalls in den Wert der Ware Arbeitskraft ein. Aber auch in Zukunft werden im Kapitalismus noch Arbeitskräfte benötigt. Deshalb ist auch der gesellschaftlich durchschnittliche Aufwand zur Erziehung von Kindern Teil des Werts. Der Wert der Ware Arbeitskraft löst sich auf in den Wert der Waren und Dienstleistungen, die für ihre Produktion (und Reproduktion) benötigt werden: Essen, Wohnen, aber auch Bildung und die Sicherstellung einer neuen Generation weiterer Arbeitskräfte.

Der Mehrwert

Der Kapitalist kann also jetzt auf dem Arbeitsmarkt eine Ware kaufen, deren Wert durch ihre Unterhaltskosten bestimmt ist, die aber die Gebrauchseigenschaft besitzt, durch Arbeit Wert zu schaffen. Dann setzt der Kapitalist sie an die Arbeit. Was das für den Kapitalisten bedeutet, können wir an einem kleinen Beispiel verdeutlichen, das von Marx entlehnt ist – allerdings verwenden wir moderne Geldeinheiten und nicht wie Marx „Shillings“. Wir ignorieren außerdem den Wert der Maschinen und Rohstoffe in dem Beispiel, da ihr Wert nicht neu geschaffen, sondern nur unverändert auf das neu geschaffene Produkt übertragen wird. Für die Erklärung des Prinzips der Ausbeutung kann man sie getrost weglassen (siehe Grafik 1).

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Grafik 1: Wie der Mehrwert entsteht (Grafik: Ulf Brandenburg)

In dem Beispiel sieht man, dass die zusätzliche Geldsumme, die der Kapitalkreislauf abwirft, dadurch entsteht, dass der Kapitalist die Lohnarbeiterin (in unserem Fall eine Laborantin) mehr Neuwert produzieren lässt, als er ihr selbst als Lohn zahlen muss. Er kann dies erreichen, indem er sie entsprechend lange arbeiten lässt (in unserem Beispiel 10 statt 4 Stunden). Er könnte denselben Effekt auch erreichen, indem er sie intensiver arbeiten lässt. Die Wertsumme, die der Kapitalist so aus der Lohnarbeiterin herauspresst, nennt Marx „Mehrwert“. Analog unterscheidet er bei der Arbeitszeit einen Teil, den er „notwendige Arbeitszeit“ nennt (in der die Lohnarbeiterin einen Neuwert produziert, der der Höhe ihres Lohns, das heißt ihrer Reproduktionskosten entspricht), von dem anderen Teil, den er „Mehrarbeitszeit“ nennt. Diese Mehrarbeitszeit (beziehungsweise den in dieser Zeit produzierten Mehrwert) eignet sich der Kapitalist ohne Gegenwert an. Er beutet also die Arbeitskraft aus (siehe Grafik 2).

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Grafik 2: Das Wesen der Ausbeutung (Grafik: Ulf Brandenburg)

Es lässt sich sogar die Rate der Ausbeutung mathematisch exakt bestimmen als Mehrwertrate m’ (siehe Grafik 3).

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Grafik 3: Die Mehrwertrate gibt ein Hinweis auf den Grad der Ausbeutung (Grafik: Ulf Brandenburg)

Marx zieht daraus das Fazit: „Produktiver Arbeiter zu sein ist daher kein Glück, sondern ein Pech.“

Fassen wir unsere Erkenntnisse kurz zusammen: Ausbeutung ist nach marxistischem Verständnis nicht ein Sonderfall extrem schlechter Arbeitsbedingungen, sondern muss im Kapitalismus der Normalfall sein, da sonst das Kapital sich nicht verwerten kann. Ausgebeutet werden also alle LohnarbeiterInnen, alle abhängig Beschäftigten

Der Arbeitslohn

Aber die Ausbeutung ist im Kapitalismus im Normalfall nicht unmittelbar sichtbar. Sie wird verschleiert durch die Form des Arbeitslohns. „Auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft erscheint der Lohn des Arbeiters als Preis der Arbeit, ein bestimmtes Quantum Geld, das für ein bestimmtes Quantum Arbeit gezahlt wird.“ Doch die „Arbeit ist die Substanz und das immanente Maß der Werte, aber sie selbst hat keinen Wert“. „Was dem Geldbesitzer auf dem Warenmarkt direkt gegenübertritt, ist in der Tat nicht die Arbeit, sondern der Arbeiter. Was letztrer verkauft, ist seine Arbeitskraft.“ „Wert der Arbeit“ ist ein „imaginärer Ausdruck, wie etwa Wert der Erde. Diese imaginären Ausdrücke entspringen jedoch aus den Produktionsverhältnissen selbst. Sie sind Kategorien für Erscheinungsformen wesentlicher Verhältnisse.“ Und Marx schreibt weiter: „Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Wert und Preis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohns oder in Wert und Preis der Arbeit selbst. Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.“

Verkompliziert werden die Verhältnisse weiter durch die Einmischung des Staates, der einen Teil des Lohnes einbehält (Lohnsteuer, Sozialabgaben …). Der Lohnarbeiterin steht also nur ein Nettolohn für ihre Reproduktion (Miete, Essen, Kleidung, Kinder …) zur Verfügung. (Ob der Staat dieses Geld dann im Interesse der Lohnarbeiterin ausgibt, das ist ein ganz anderes Thema.)

Kern des Interessengegensatzes

Warum ist nun diese wissenschaftliche (ökonomische) Erklärung der Ausbeutung wichtiger als die moralische Verurteilung? Sie liefert uns den Schlüssel zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Widerspruch des Kapitalismus. Wir haben ja schon gesehen, dass der Mehrwert nur entsteht, wenn es der Kapitalist schafft, die Lohnarbeiterin lange beziehungsweise intensiv arbeiten zu lassen. Die Lohnarbeiterin hingegen hat das Interesse, auch Zeit für Erholung zu haben und nicht ihre ganze Kraft an einem einzigen Arbeitstag verausgaben zu müssen. Aus unserem Beispiel geht auch noch ein weiterer Konflikt hervor: Je weniger Lohn der Kapitalist der Lohnarbeiterin zahlen muss, desto größer wird sein Gewinn, der Mehrwert. Kapitalist und Lohnarbeiterin haben in diesen Fragen total entgegengesetzte Interessen. Die ständig notwendigen Auseinandersetzungen um Lohn, Arbeitszeit und Arbeitsintensität sind also im Ausbeutungsmechanismus angelegt.

Und: „Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt“, wie Marx schreibt. Das ist die ökonomische Basis des Klassenkampfs zwischen Kapitalisten und Arbeitern in den Betrieben, zwischen Kapitalistenklasse und Arbeiterklasse in den großen nationalen Arbeitskämpfen.

Die „Marxistischen Blätter“ gibt es unter: marxistische-blaetter.de

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"Was ist Ausbeutung?", UZ vom 5. April 2024



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