Die Krankheit heißt Corona, die Krise Imperialismus. Eine Analyse der Kommunistischen Arbeiterzeitung (Teil 1)

Wer wird gerettet?

Richard Corell und Stefan Müller

Ende Juli wurden die Wirtschaftsdaten für das zweite Quartal 2020 veröffentlicht. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist im Vergleich zu den ersten drei Monaten um 10,1 Prozent gesunken. Bürgerliche Ökonomen sprechen von einer „Jahrhundertrezession“, deren Ursachen in den Folgen der Pandemie, ausgelöst durch das Virus SARS-CoV-2, gesehen werden. Für die „Kommunistische Arbeiterzeitung“ (KAZ) haben die UZ-Autoren Richard Corell und Stefan Müller gemeinsam mit der AG Krise der KAZ die Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie in den letzten Monaten untersucht. Mit freundlicher Genehmigung der Autoren veröffentlichen wir ihre Analyse in dieser und der kommenden Ausgabe der UZ in leicht gekürzter Fassung. Der komplette Artikel ist zu finden unter: https://www.kaz-online.de

In den Statistiken der Bundesbank war im Sommer letzten Jahres deutlich geworden, dass die Wirtschaft der BRD ihren zyklischen Höhepunkt im 3. Quartal 2018 überschritten hatte und in eine neue zyklische Krise eingetreten war. In der KAZ 368 vom September 2019 hatten wir dazu festgehalten, dass die verheerenden weltweiten Folgen der letzten zyklischen Krise mit ihrem Tiefpunkt 2009 noch nicht überwunden waren, weder was das Abwälzen der Lasten auf die Arbeiterklasse und die breiten Volksmassen angeht, noch in Bezug auf die Brüchigkeit des imperialistischen Wirtschafts- und Finanzsystems, chronische Überkapazitäten der Industrie und entsprechende Massenerwerbslosigkeit.

Die Charakteristika der allgemeinen Krise des Kapitalismus zeigen sich deutlich, nicht nur in der Ökonomie. Die brüchige Fassade der bürgerlichen Demokratie, die einst mit dem Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit angetreten war, bröckelt. Die Krise schwelte nach 2009 besonders in der EU weiter, weil ein echter Aufschwung ausblieb, der die nicht abgeschriebenen „faulen“ Kredite in den Bankbilanzen saniert hätte. Der Schwelbrand im Euro-System war schließlich von der Europäischen Zentralbank (EZB) durch die Politik des „billigen Geldes“ mit Nullzins eingedämmt worden. Mangels bereinigender Wirkung der Krise trat auch keine massenhafte Erneuerung der Produktionskapazitäten (des fixen Kapitals) ein. Die Nettoinvestitionen nahmen trotz Nullzins und Geldschwemme nicht zu. Bürgerliche Ökonomen verbogen sich in ihren Sprachregelungen: Von „Konjunkturdelle“, „technischen Rezessionsdefinitionen“ und „Atempause des Wachstums“ wurde geschwafelt, um das Zusteuern auf die zyklische Krise zu beschönigen. Immer brav auf der Oberfläche wurde gestritten, ob das Wachstum eher bedroht sei durch den „Handelskrieg“ USA-China oder den Brexit, beides angeblich betrieben von einer Art bescheuerter Clowns. Die bürgerlichen Ideologieproduzenten schaffen keine halbwegs rational erscheinenden Erklärungen mehr für die Probleme, die aus der Überakkumulation von Kapital herrühren, sichtbar in Überkapazitäten, im Zuviel an Produktionsmitteln, an Betrieben im Verhältnis zur ebenso kapitalismusbedingten Beschränkung der Massenkaufkraft. (…)

Pandemie vertieft die Krise
Die zyklische kapitalistische Krise und ihre Entwicklung im Rahmen der Allgemeinen Krise wurde also durch die aktuelle Pandemie keineswegs ausgelöst, wird aber dadurch verstärkt. Sie wird mindestens so tief wie 2009, wahrscheinlich tiefer. In den internationalen Beziehungen, in denen sich der deutsche Imperialismus bewegt, steigt die Spannung vor allem zwischen den USA und der Volksrepublik China. Der deutsche Imperialismus behält seine Krisenstrategie bei, passt aber die taktische Reaktion an. Das ist nicht so zu verstehen, dass ein Mastermind der Regierung sagt, was sie zu tun hat. Im Gegenteil: Die herrschenden Kapitalisten kämpfen in erbitterter Konkurrenz um Einfluss in ihrem Staat, dominiert von einigen Dutzend Finanzoligarchen, die sich noch erbitterter die kleiner werdenden Brocken abjagen. Krise als Bewegungsform der Akkumulation bedeutet: „Je ein Kapitalist schlägt viele tot“, wie wir von Marx gelernt haben.

Steuern – war da was?
Ein Prozent der Bevölkerung Deutschlands besitzt 87 Prozent des Vermögens. Diese 800.000 Reichen zahlen indes kaum Steuern: Die Erbschaftsteuer brachte 2019 gerade mal 7 Milliarden Euro. Körperschaftsteuer und Kapitalertragsteuer erbrachten jeweils 32,0 bzw. 28,6 Milliarden, die Gewerbesteuer 55 Milliarden. Die Vermögensteuer wird (seit 1997) nicht erhoben. Die Börsenumsatzsteuer wurde 1991 abgeschafft. Und sie leisten sich die besten Wirtschaftsprüfer und Steuerberater, damit selbst diese wenigen Steuern, die sie überhaupt belasten könnten, umgangen (Steueroasen), heruntergesetzt (Absetzen von der Steuer) oder abgewälzt (über die Preise) werden können.

Lohn- und Umsatz-/Mehrwertsteuer, die vorwiegend die Masse der Bevölkerung inklusive ihrer ärmsten Teile zu tragen hat, spülen dagegen zusammen 462 Milliarden Euro (rund 63 Prozent aller Steuereinnahmen) in den Staatssäckel. Dagegen kann die Mehrwertsteuer zum Beispiel im Zusammenhang mit Einkäufen bei Metro für Selbstständige mit Vorsteuerabzugsberechtigung weitgehend umgangen werden. Unternehmer können auf diese Art etwa den Verzehr des Hummers als „Betriebskosten“ auf den Preis abwälzen. Der brave Steuerzahler übernimmt dann noch Essen und Trinken der Reichen. Tischlein deck‘ dich.

Dabei müssen sie Allianzen eingehen, haben wir von Lenin gelernt, die auf dem Boden des Privateigentums immer nur vorübergehend sein können, im Imperialismus letztlich mit dem Ziel, bei der Neuaufteilung der Weltmärkte nicht abgeschlagen zu werden. Das Klasseninteresse der Systemverteidigung wird so ständig vom Konkurrenzkampf durchkreuzt.
Der deutsche Imperialismus hatte seine Digitalisierungs-Attacke gestartet, um auch aus dieser Krise stärker herauszukommen. Dabei geht es nicht nur um eine neue technische Basis, sondern wie immer im Kapitalismus bei Umwälzungen der Betriebsweise auch um stärkere Ausbeutung der Arbeitskraft. In der BRD richtet sich der Angriff besonders auf den Normalarbeitstag und das Normalarbeitsverhältnis. Der Imperialismus ist aber auch dadurch gekennzeichnet, dass er auch aus anderen Völkern möglichst viel auspresst, um Ruhe an der Heimatfront, auch für die Aufrüstung, zu erkaufen. So weit der Stand im Oktober 2019.

In dieser Lage forderten im November der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) bzw. die ihnen nahestehenden Wirtschaftsinstitute einträchtig ein Investitionsprogramm von etwa 500 Milliarden Euro. Der BDI als Lobbyverband der Industrie wird dominiert von der Großindustrie, im Gegensatz zum BDA, dem Lobbyverband der „Arbeitgeber“, in dem auch die nichtmonopolistische Industrie mitreden darf. Über an Co-Management orientierte Betriebsratsspitzen kann die Großindustrie auf dem Boden der vorherrschenden Sozialpartnerschaftsideologie Einfluss auf die DGB-Spitzen nehmen. Gemeinsam forderten sie Steuergeld zur Vermeidung eines Nachfrageeinbruchs an. Das zeigt, dass die zyklische kapitalistische Krise bereits Monate vor dem Ausbruch der Pandemie absehbar war und massive Staatseingriffe der Großen Koalition geplant waren. (…)

„Keynesianismus“: Mit Rüstung aus der Krise
Inzwischen vernetzte sich die deutsche und französische Finanzoligarchie mit dem Ziel, die technologische und damit militärische und ökonomische Vorherrschaft der USA abzuschütteln. Konkret geht es darum, Geldströme über staatsmonopolistische Maßnahmen im Rahmen der EU in ihre Richtung umzuleiten.

Seit Dezember 2019 haben BRD und Frankreich Ursula von der Leyen als Präsidentin der EU-Kommission und Thierry Breton als Binnen- und Rüstungskommissar installiert. (…) Von der Leyen klärte die Sprachregelung bereits im „mission letter“, dem Berufungsschreiben für ihren Vizepräsidenten, den neuen EU-Außen- und Sicherheitskommissar, den spanischen Sozialdemokraten Josep Borrell: Die „globale Machtverschiebung“ setze drei „Transformations“-Themen: „Klima“, „digitale Technologie“ und „Geopolitik“. In der Aufgabenbeschreibung für Borrell geht es dann nicht mehr ums Klima, sondern darum, dass“in den nächsten fünf Jahren mutige Schritte zu einer echten Europäischen Verteidigungsunion unternommen werden müssen“ in enger Abstimmung mit den Zuständigen für die Bereiche der Technologie.

Dividende trotz Krise
VW konnte 2019 über 11 Millionen Fahrzeuge verkaufen. Das ist ein Plus von 1,2 Prozent. Der Umsatz stieg wegen des Booms mit den teuren SUV gar um 7,1 Prozent auf rund 253 Milliarden Euro. Der operative Gewinn stieg um 12,3 Prozent auf 19,3 Milliarden. Von den 13,3 Milliarden, die ausgeschüttet werden, streichen die Familien Porsche und Piëch 53 Prozent und damit 7 Milliarden Euro ein. Und so etwas streckt auch noch ganz offen die Hand aus nach Subventionen, von Abwrackprämien über den Ausbau des Elektrotankstellen-Netzes bis zu Beihilfen für die Entwicklung der Wasserstofftechnologie.

Der Begriff „Transformation“ wurde zur taktischen Durchsetzung mit der „Klima“-Frage aufgeladen, um damit ähnlich wie mit dem Begriff „Globalisierung“ eine quasi naturgegebene Entwicklung zu unterstellen. Von der Leyen propagierte entsprechend im Rahmen der Kriegs-und-Rüstungs-Messe „Münchner Sicherheitskonferenz“ („Siko“) Mitte Februar den Zusammenhang zwischen der „technologischen Souveränität“ Europas und dem „Green Deal“. Der Ausdruck „Green Deal“ steht bereits in Zusammenhang mit der erwarteten Krise: Er soll verweisen auf den „New Deal“ der USA unter Roosevelt, der angeblich durch hohe Staatsausgaben für Infrastrukturinvestitionen die USA aus der Weltwirtschaftskrise nach 1929 herausgebracht habe. Tatsächlich wurde dort die Arbeitslosigkeit erst 1941 nach dem Kriegseintritt der USA überwunden – ein Zusammenhang, den Frau von der Leyen geflissentlich umgeht. Die EU-Kommission hatte da schon ganz ohne Pandemie vorgerechnet, dass die EU-Länder 190 Milliarden Euro pro Jahr investieren müssten, also rund eine Billion in fünf Jahren, um gegen China und die USA technologisch aufzuholen.

Auf derselben „Siko“ riefen die US-Außen- und Kriegsminister offiziell den kalten Krieg gegen die VR China aus, konnten aber keine einmütige Gefolgschaft aus Frankreich und Deutschland erzielen. Macron konterte mit der Forderung nach digitaler und nuklearer Souveränität der EU. In derselben Woche wurden dann in Europa die ersten großen Fachmessen wegen der Corona-Pandemie abgesagt, in Paris wurde der erste Corona-Tote registriert. Nach der Entwicklung in China und Italien reagierte die BRD-Regierung schließlich Mitte März mit Kontaktbeschränkungen, um die exponentielle Ausbreitung der Pandemie zu bremsen. Die Finanz­oligarchie sah bei stockendem Absatz in der fortschreitenden Krise kein Problem darin, einzelne ausgewählte Betriebe vorübergehend dicht zu machen, auch um damit einen Vorwand für die Inanspruchnahme von „Staatsknete“ zu haben.

Deren Regierung war aber bald im Konflikt zwischen dem Interesse der Masse der Einzelunternehmer – so schnell wie möglich die Beschränkungen aufheben – und dem Gesamtinteresse des Kapitals, die Kapitalverwertung insgesamt abzusichern. Entscheidend dabei ist das Interesse der Finanzoligarchie, die sowohl den Rest ihrer Klasse, die nichtmonopolistischen Kapitalisten, bei der Stange halten muss, als auch die Arbeiterklasse und die kleinbürgerlichen werktätigen Schichten. Ende März sahen die Oligarchen bereits Licht am Ende des Tunnels, weil China wieder anfing zu produzieren und zu kaufen. Der VW-Konzern zum Beispiel hat 2019 40 Prozent der Fahrzeuge in China abgesetzt. Anders sieht es bei den meisten Kapitalisten ohne China-Stütze aus, die auf einen schnellen „Exit“ von den Beschränkungen drängen und damit auch das Risiko einer wieder exponentiellen Verbreitung der Pandemie in Kauf nehmen.

Die zyklische Krise wurde vor der Pandemie von den großen Konzernen in der Größenordnung der Krise von 2009 erwartet, das heißt ein Rückgang des BIP, des Bruttoinlandsprodukts, um etwa 6 Prozent. Entsprechend hatten sie Cash-Reserven oft in zweistelligen Milliardenhöhen.

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"Wer wird gerettet?", UZ vom 21. August 2020



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