So wie es ist, bleibt es nicht!

Zeitenwende von links

Kolumne

Der Kanzler hat sich einen Begriff auf die Lippen gelegt, der den Deutschen als Wort des Jahres 2022 gelten soll: Zeitenwende. Gewiss, das alte Jahr war katastrophal. Der Krieg in der Ukraine ist voller individueller und zivilisatorischer Tragödien. Völker, die in freundschaftlicher Nachbarschaft gelebt hatten, liegen in den Schützengräben eines Waffengangs, der vermeidbar gewesen wäre. Und die Welt leidet mit. Die europäische und internationale Sicherheitsarchitektur ist zerstört. Die Abdrift in nukleare Konfrontationen nicht ausgeschlossen. Das Minsker Abkommen von der deutschen Altkanzlerin gerade als trickreicher Zeitgewinn des Westens enttarnt. Den politischen Obstruktionen gegen Nord Stream folgten obskure Sabotageakte am Ostseegrund. Der Boykott russischer Energie kostet den europäischen „Wertewesten“ Unsummen und führt ihn in neue Abhängigkeiten. Auf die Urheberschaft scharf zurückschlagende antirussische Sanktionen vergiften das Wirtschaftsleben Europas, beschränken die Potentiale Deutschlands und gefährden die auskömmliche Existenz von Privathaushalten wie notleidenden Unternehmen. Mit billigen Rohstoffen und anderen Standortvorteilen laden die USA europäische Firmen ein, ihre Produktion nach Übersee zu verlagern. Die USA, als NATO-Dirigent auch Spiritus rector des provokatorischen Vorkriegs im ukrainischen Scharmützel, genießen einstweilen die Früchte ihrer geostrategischen Egoismen, während das düpierte Europa den Wert seiner Entkoppelung von solcher Vormundschaft erkennen müsste.

09 Kolumne koenig hartmut 1331 - Zeitenwende von links - Vernunft, Zeitenwende - Positionen
Hartmut König

Nicht der Februar 2022 hat eine Zeitenwende markiert. Scholz und die „Wertewelt“, der sich der einst ungezähmte Jungsozialist heute zurechnet, benötigen diese zeitliche Zuschreibung, um dem Volk bei sinkendem Lebensniveau und harschem Sozialabbau ihr milliardenschweres Rüstungspaket als transatlantische Solidarität zu verkaufen. Frühere Realismen in der Verständigung mit Moskau, einst wahlträchtige Pluspunkte beim Verfolg Brandtscher Ostpolitik, werden von den Scholz und Steinmeier heute wie lästige Narben verhüllt. Nein, die Zeitenwende geschah, als die alte Vernunft nichts mehr galt. Als dem Kollaps des Realsozialismus in Europa das Streben der USA folgte, sich künftig als einzige Entscheidungsmacht über das Weltgeschehen zu erheben. Als man im Westen versuchte, die Geschichte des 2. Weltkrieges umzudeuten und Russland zur Regionalmacht zu degradieren. Als nach Jelzins Marionettenstadel das wieder auflebende russische Selbstbewusstsein in die Schranken gewiesen werden sollte. Als der „große Bruder“ in Washington dafür willige Kombattanten sammelte und ihnen die als sakrosankt verklärten „westlichen Werte“ aufs Panier hob. So ungeniert, als hätten die in völkerrechtswidrigen Kriegen und Gewaltakten gegen aufmüpfige Völker und Regierungen nicht jedes Etikett von Demokratie und Freiheit verloren. Zeitenwende war, als dem „Wertewesten“ jedes Mittel recht wurde, um eine sich multipolar aufstellende Welt zu verhindern. Ein emanzipiertes Europa hätte Teil dieser Multipolarität und damit friedensfördernd sein können.

Aber Uncle Sam kommen Follower abhanden. Der größte Teil der Welt meidet den Weg in die antirussische Falle, der die antichinesische folgen soll. In der arabischen Welt, auf dem indischen Subkontinent, in Afrika, Asien und Lateinamerika bedenkt man strategische Partnerschaften längst nach den Maßgaben einer Zukunft, die immer seltener in einem amerikanischen Zeitalter gesehen wird. Kalte Schultern für Missionare wie Baerbock, geändertes Stimmverhalten in der UNO, Nachdenken über die Perspektiven der Seidenstraße, Gedankenspiele zur „Dedollarisierung“ der Finanzmärkte und vieles mehr, was eine antiimperialistische Seele erfreut, beweisen es täglich. Will sagen: So wie es ist, bleibt es nicht. Eine bessere Zeitenwende steht noch aus. Die Zeitenwende von links. Die mit Vernunft.

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"Zeitenwende von links", UZ vom 6. Januar 2023



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