Argentinien und Brasilien: Sozialdemokraten setzen nicht auf Erneuerung

Alter Wein in alten Schläuchen

Von Günter Pohl

Es ist wichtig sich ebenso die Vergänglichkeit solcher „Wellen“ als auch deren Begrenztheit deutlich zu machen, um inmitten der politischen Konjunktur, die Wünschen genauso viel Spielraum lässt wie Illusionen, nicht den äußeren Rahmen aus dem Blick zu verlieren. Dieser ist auch in der dritten Welle ab der Jahrtausendwende, als 17 von 21 lateinamerikanischen Staaten in unterschiedlichem Grad einen Regierungswechsel nach links machten, in den Grundzügen der gleiche geblieben, wenn auch angepasst an die moderneren Sprachregelungen von Demokratie und Menschenrechten. Für Lateinamerikas linke Regierungen galt: Anerkennung der Auslandsschulden, Akzeptanz des „demokratischen Systems“ von Regierungswechseln über Wahlen, Nichtinfragestellung des Kapitalismus. Die USA und auch die EU konnten und können bei Einhaltung dieser Vorgaben auch mit linksgeneigten Regierungen leben. Schwieriger waren die Fälle, wo man dieses System verbal attackierte und ansatzweise zu überwinden trachtet(e), wie in Venezuela oder Bolivien. Und – in geringerem Maß – wenn es um eine als Bedrohung der Interessen empfundene Integration der Staaten geht, wie ALBA, womit auch Ecuador oder Nicaragua unangenehm auffielen. Schon weit weniger Probleme macht die CELAC als Staatengemeinschaft Lateinamerikas und der Karibik, da ihre Struktur derzeit noch wenig konkrete Gemeinsamkeit erwarten lässt und sich auf den gewiss nicht zu unterschätzenden, aber eben vorwiegend medialen Effekt der „OAS ohne die USA“ beschränkt.

2005/06 erreichte die Welle ihren Höhepunkt, 2008 stoppte der Linkstrend, seit 2010 ist das Rollback im Gange. Da, wo die Linksregierungen danach noch Wahlen gewannen, war der Vorsprung jeweils immer dünner; andere Wahlen wie in Argentinien wurden verloren, wo der Wunschkandidat der scheidenden Präsidentin Cristina Fernández unterlag. In Brasilien ging die Regierungskoalition zwischen der Präsidentin Dilma Rousseff und ihrem Vizepräsidenten Michel Temer als parlamentarische Absetzungsfarce in die Brüche. Damit gingen in Brasilien dreizehneinhalb Jahre Regierung der Arbeiterpartei (PT) und in Argentinien zwölf Jahre der linksperonistischen „Front für den Sieg“ (FPV) zu Ende.

Argentinien wird seither vom konservativen Unternehmer Mauricio Macri regiert, Brasilien ohne Neuwahl vom bisherigen Vizepräsidenten Temer. Beide haben sozialpolitische Maßnahmen gekippt; am makroökonomischen Rahmen musste indes nichts geändert werden, war dieser doch immer vollständig in das kapitalistische Verwertungssystem und die internationale Schuldenlogik eingebunden. Lula da Silva hatte Brasilien trotz Null Hunger-Programmen den Interessen des transnationalen Kapitals bei Steuern, Finanzpolitik und Landbesitz angepasst. Während die radikaleren Prozesse in Venezuela und Bolivien, aber auch in Ecuador, ihren Vorhaben gleich zu Beginn mit neuen Verfassungen einen institutionellen Rahmen zur Unterstützung gegeben hatten, kommt die Arbeiterpartei fast fünfzehn Jahre nach dem ersten Wahlsieg und ein Jahr nach dem Regierungsverlust aktuell mit der Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung, die das „korrupte und delegitimierte politische System“ reformieren soll.

Damit ist für die PT nach dem Wundenlecken über den „Putsch“ der juristische Streit um eine mögliche Kandidatur Lula da Silvas, dem Korruption bei drei Verträgen mit dem staatsmonopolistischen Ölkonzern PetroBras vorgeworfen wird, wichtiger als eine Fehleranalyse, die über taktische Unzulänglichkeiten hinausgeht – wie zum Beispiel über die Tatsache, dass es nie die versprochene Landreform gab. Derzeit gibt die PT einen zehn Punkte umfassenden Argumentationsleitfaden heraus, wonach die Anschuldigungen unhaltbar sind und Lula nicht verurteilt werden kann. Gleichzeitig wird der ehemalige Koalitionspartner Temer selbst der Bestechung von Abgeordneten bezichtigt.

Auch in Argentinien ist kein anderes, erfolgversprechendes Zugpferd als die Ex-Präsidentin in Sicht: Cristina Fernández hat für die Parlamentswahlen im Oktober die neue „Bürgereinheit“ (Unidad Ciudadana) gegründet; nächsten Monat finden im ganzen Land obligatorische Vorwahlen statt. Die Wahlen 2019 sollen der Peronistin die Rückkehr in die „Casa Rosada“ (Präsidentenpalast) bringen. Auch in Argentinien gibt es mehr Hoffnung in „Cristina“ als Vertrauen in eine Fehleranalyse, wie beispielsweise des Kardinalfehlers der Anerkenntnis der Diktaturschulden. Begünstigt wird diese Entwicklung, die selbst bei einem Wahlerfolg kaum über Sozialbeihilfen hinausgehende Politik erwarten lässt, durch die Unbeliebtheit des kalt berechnenden Präsidenten Macri.

Chile hat im Gegensatz zu den beiden rechtsregierten Ländern eine Linkskoalition, geführt von der Sozialistischen Partei und unter Beteiligung der immer stärkeren Kommunistischen Partei (PCCh). Vielleicht ist die jüngere Geschichte Chiles Vorbild für Frau Kirchner und Lula da Silva. Dort hatte die Ex-Präsidentin Michelle Bachelet (2006/10) nach der Unterbrechung durch die Rechtsregierung unter Sebastián Piñera 2014 den Sprung zurück ins Amt geschafft. Die Vorwahlen zur Kandidatenkür für die Präsidentschaftswahlen im November brachten vorletzte Woche für Ex-Präsident Piñera einen klaren Sieg, während sich bei der neu gegründeten linken „Frente Amplio“ (Breite Front) Beatriz Sánchez durchsetzte. Die Regierungskoalition ist sich derweil noch uneins: Die Kommunisten unterstützen den Unabhängigen Alejandro Guillier, die Christdemokraten schicken Carolina Goic ins Rennen.

Die Kritik der PCCh an manchen Entscheidungen der gemäßigten Partner ist immer offenkundiger geworden. So stand Chile an der Spitze einer Gruppe von vierzehn Staaten, die kürzlich in der trotz der CELAC nicht so einfach totzukriegenden Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) eine Entschließung gegen Venezuelas Regierung einbrachten. Chiles Außenminister Muñoz verlas die Forderung nach Freilassung von politischen Gefangenen sowie Vorverlegung der Präsidentschaftswahlen statt der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung.

Die Entschließung scheiterte abermals vor allem am Widerstand der kleinen karibischen Staaten, die das „Grundprinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“ anmahnten. Kuriosität am Rande: Derselbe chilenische Außenminister verwahrte sich kurz darauf gegen eine Einmischung der OAS, nachdem Bolivien die Freilassung von Landsleuten aus dem Nachbarstaat verlangt hatte. Und Venezuelas Außenministerin Delcy Rodríguez forderte von Chile „im Namen des Volkes von Allende die Pinochet-Verfassung zu stürzen“. Es kommt eben darauf an, was man daraus macht.

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"Alter Wein in alten Schläuchen", UZ vom 14. Juli 2017



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