Pistorius fürchtet russlandfreundliche Umtriebe in der Bundeswehr

Angst vor Zersetzung

Populärwissenschaftlich ist der Geheimdienst der Bundeswehr durchaus auf der Höhe der Zeit: „Niemand wird als Extremist geboren. Erfahrungen des MAD und anderer Sicherheitsbehörden zeigen, dass sich Extremismus in einem Prozess entwickelt.“ Die Koordinierungsstelle für Extremismusverdachtsfälle (KFE), eine Unterabteilung des Verteidigungsministeriums, hat in ihrem jüngsten Jahresbericht eine neue Brutstätte verfassungsfeindlichen Gedankenguts entdeckt. Infolge des „völkerrechtswidrigen Angriffs der Russischen Föderation“ gewinne seit März 2022 eine Protestwelle „verfassungsschutzrelevanter Sympathiebekundungen für Russland in einem antiwestlichen, insbesondere anti-amerikanischen Zusammenhang“ an Breite, die noch durch Ängste vor dem „rapiden Anstieg der Energiepreise und der Inflation“ genährt werde. Das Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Strukturen und Organe schwinde. Auch die Truppe „bleibt von diesen Phänomenen nicht unberührt“.

Das „Gesetz zur Beschleunigung der Entfernung von verfassungsfeindlichen Soldatinnen und Soldaten“ in der Bundeswehr soll nun Abhilfe schaffen. Kern der Ende August dem Parlament vorgelegten Novelle ist die Änderung von Paragraf 46 Soldatengesetz, der künftig dafür sorgen soll, dass Bestrebungen, die gegen „die freiheitliche demokratische Grundordnung“, den „Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind“ oder auch nur die Amtsführung von Bundes- oder Landesorganen beeinträchtigen, unmittelbar und ohne den Weg über die Verwaltungsgerichte zur Entlassung aus dem Dienst führen.

Die Idee ist nicht neu. Seit 2017 ist dies der vierte Anlauf. Auffällig ist, dass von der bisherigen in den Gesetzentwürfen enthaltenen Zielrichtung auf die Bekämpfung neonazistischer Umtriebe in Heer, Luftwaffe und Marine im Entwurf von Boris Pistorius nicht mehr viel zu lesen ist. Im Mittelpunkt steht jetzt jede „verfassungswidrige Delegitimation“ des Staates und seiner Organe. Die Vorgabe hierzu konnte man schon im Koalitionsvertrag der jetzigen Ampelkoalition vom 24. November 2021 nachlesen: Verfassungsfeinde seien samt und sonders effektiv und vor allem schnell zu entfernen, „um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen“. Parallel zur Änderung des Soldatengesetzes hat die Bundesregierung auf breiter Front bereits gleichgelagerte Novellen des Beamtenrechts, des Richtergesetzes und des Zugangs für Laienrichter (Schöffen) auf den Weg gebracht.

Für Pistorius ist es höchste Zeit, seinen Laden beisammenzuhalten. Seit einigen Monaten entwickeln sich in der Truppe unliebsame Erscheinungen, die dem Stakkato der ampelkoalitionären Gefechtstrompeten zuwiderlaufen: Die „Karrierecenter der Bundeswehr“ – früher schlicht: Kreiswehrersatzämter – meldeten zum 31. Dezember vergangenen Jahres eine Verfünffachung der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung (951) von Berufs-, Zeitsoldaten und Reservisten. Von Januar bis Mai 2023 kamen weitere 503 Anträge dazu. Auch die schrillen Werbekampagnen für das Waffenhandwerk ziehen nicht, im Juni fiel der Personalbestand der Bundeswehr auf 182.140, den niedrigsten Stand seit vier Jahren. 18.692 Unteroffizier- und Offizier-Dienstposten bleiben unbesetzt. Der Zeitenwende gehen die Unterstützer von der Fahne.

Über den Autor

Ralf Hohmann (Jahrgang 1959) ist Rechtswissenschaftler.

Nach seinen Promotionen im Bereich Jura und in Philosophie arbeitete er im Bereich der Strafverteidigung, Anwaltsfortbildung und nahm Lehraufträge an Universitäten wahr.

Er schreibt seit Mai 2019 regelmäßig für die UZ.

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"Angst vor Zersetzung", UZ vom 6. Oktober 2023



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