Herr und Knecht in Hegels „Phänomenologie des Geistes“

Arbeit am neuen Weltalter

Sätze wie Hiebe in die Magengrube. „Alles Fixe hat in ihm gebebt“; „es hat die Furcht des Todes, des absoluten Herrn, empfunden“. Wer schreibt da so? Warum? Und: Wer ist „es“? Das Beben und die Todesfurcht erfährt ein individuelles Bewusstsein auf einer langen konfliktreichen Reise, auf die es der verantwortliche Philosoph in seiner „Phänomenologie des Geistes“ geschickt hat. Die Etappe, an der dieser „Kampf auf Leben und Tod“ ausgefochten wird, heißt in dem nämlichen Buch: „Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft“.

Die Stelle – das Herr-Knecht-Kapitel in der „Phänomenologie des Geistes“ – erlebte wie kaum ein anderer Passus einer philosophischen Schrift die mannigfachsten und einander zumeist schroff widersprechenden Interpretationen. Nicht ohne Grund und auch nicht unbedingt überraschend: Der Gegenstand, den Hegel dort behandelt, lädt nachgerade dazu ein, die Agora der unaufgeregten und gediegenen Diskussion zu verlassen, um das Kampffeld der weltanschaulichen Konfrontation zu betreten. Was immer sonst zur Hegelschen Dialektik des Figurenpaars Herr und Knecht zu sagen wäre, sind darin Historisches und Gesellschaftliches aufgehoben und reflektiert; die Angelegenheit gerät, so sehr sie auch Teil einer strengen und schwer zugänglichen philosophischen Darstellung ist, politisch.

Hegel, der damals in Jena lebte, hatte seine Arbeit an der Phänomenologie noch nicht beendet, als Napoleons Truppen der preußischen Armee in der Schlacht bei Jena und Auerstedt eine vernichtende Niederlage zufügten. Die Welt war ins Wanken geraten. In der Vorrede notierte er: „Ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, dass etwas Anderes im Anzuge ist. Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einemmale das Gebilde der neuen Welt hinstellt.“ Hegel wusste, er schrieb in einer „Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode“: „Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen.“ Nach der großen Welterschütterung der Französischen Revolution sah er „im napoleonischen Regime ein neues Weltalter im Entstehen begriffen (…) Und seine Philosophie soll nun ihr gedanklicher Ausdruck sein“ (Georg Lukács). Dass also Hegels Philosophie „bis in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution ist“, wie der Liberalkonservative Joachim Ritter feststellte, liegt auf der Hand, wird aber längst nicht von allen geteilt.

Die Methode der Phänomenologie jedenfalls ist im Wesentlichen die: Der Weg der Erfahrung des Bewusstseins ist stets rückgekoppelt (vermittelt) an die jeweils konkrete Beschaffenheit eines Gegenstands auf einer je konkreten Erfahrungsstufe. Ernst Bloch: „Auf dem Standpunkt der jeweiligen Vermittlungsform zeigen sich Widersprüche, der Standpunkt muss verlassen werden, der auf ihr erschienene Inhalt löst sich auf, eine neue Stufe des Subjekt-Objekt erscheint mit neuen Widersprüchen, bis zum absoluten Wissen, wo die Ungleichheit der Sache mit sich selbst aufgehoben ist.“ Der Widerspruch ist demnach der Stachel, der die Erkenntnisleiter hinauftreibt. Das individuelle Bewusstsein findet eine ihm fremde und fertige, von ihm ganz unabhängige Außenwelt (Natur, Gesellschaft) vor, der Weg, den es durchläuft, ist aber bereits geebnet. Es steht einer noch unerkannten objektiven Wirklichkeit gegenüber, die an sich vorhanden und wirksam ist, aber erst in einem langen und kampfvollen historischen Prozess angeeignet wird, der sich im Aufstieg vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein und von diesem zur Vernunft ausdrückt. Die objektive Wirklichkeit bildet für die „Gestalten des Bewusstseins“ den nie begriffenen Hintergrund. Für uns aber sind diese Zusammenhänge bereits verständlich, da wir als philosophische Leser den Entwicklungsweg von einer höheren Warte aus betrachten. Die Phänomenologie „ist nicht die objektive Entwicklungsgeschichte selbst, sondern die Entwicklung der menschlichen Gattungserfahrungen im Spiegel des individuellen Bewusstseins“ (Lukács).

Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch die Bedeutung des Herr-Knecht-Verhältnisses. Im Übergang zum Selbstbewusstsein macht das Bewusstsein die Erfahrung, einer Gattung anzugehören: Das Selbstbewusstsein gehört an sich oder objektiv der Gattung an, hat aber selbst diese Erfahrung für sich noch nicht gemacht. Es kann diese Erfahrung nicht erreichen, indem es dabei verharrt, nur sich selbst zum Gegenstand zu machen. Das Bewusstsein muss als „Sein für ein Anderes“ existieren, um durch das andere Bewusstsein zu sich selbst zu kommen. In kontemplativer, beschaulicher Reflexion kann kein Selbstbewusstsein gewonnen werden, narzisstische Nabelschau führt nicht zum Selbstbewusstsein: „Das Selbstbewusstsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewusstsein.“ Die erstmalige Erfahrung, einer Gattung anzugehören, spielt sich als eine konkret historische, freilich vom Selbstbewusstsein noch unbegriffene ab, als Beziehung von Herr und Knecht, als Unterwerfungs- und Gewaltverhältnis. Der Herr bezieht sein Selbstbewusstsein aus der Anerkennung durch den Knecht, dafür hat er sein Leben riskiert. Der Knecht, der „die Furcht des Todes empfunden“ hat, arbeitet und überlässt das Produkt der Arbeit dem Herrn, der es rein genießen kann. Da keine wechselseitige Anerkennung unter Gleichen erfolgt ist, kann der Herr im anderen nur sich selbst als Knecht erkennen, der Knecht hingegen kommt durch die Arbeit „zu sich selbst“. Die Arbeit „ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet“. Während der Herr demgemäß folgenlose Episode bleibt, erfährt der Knecht sein Selbstbewusstsein nur in entfremdeter Gestalt, nämlich in der Arbeit für den Herrn. Nur innerhalb der Knechtschaft kann der Knecht sein Selbstbewusstsein ausbilden.

Der Arbeit kommt in der Phänomenologie also die Rolle eines Wendepunkts zu. Hegel lässt die Geschichtlichkeit der Menschheit als vom individuellen Bewusstsein anzueignende Gattungserfahrung aus dem Naturverhältnis hervorgehen. Das natürliche Bedürfnis sucht seinen es befriedigenden Gegenstand, es ist Begierde. Die Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse (Begierde und Genuss) fallen noch außerhalb der menschlichen Geschichte. Erst die Arbeitstätigkeit, die sich zwischen Begierde und Genuss schiebt und die das Tun des Einzelnen als Gattungstätigkeit allgemein werden lässt, hebt den Menschen aus dem Naturgeschehen in die Gesellschaftsgeschichte. Es ist keine Arbeit ohne gesellschaftliche Vermitteltheit und keine Gesellschaft ohne Arbeit.

Diese beiden Momente – die Bedeutung der Arbeit, als Anteil an der „Menschwerdung des Affen“, wie Engels sagte, in ihrer historisch-gesellschaftlichen Vermitteltheit – zeigen die besondere Relevanz des Herr-Knecht-Kapitels an: Die idealistische Form besitzt einen materialistischen Inhalt.

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"Arbeit am neuen Weltalter", UZ vom 17. Juli 2020



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