Nervenkostümfilm mit Dichter: „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“

Blau steht ihm nicht

„Zugegeben! Überreizt, ganz furchtbar überreizt war ich damals und bin es noch; doch warum wollt ihr behaupten, dass ich wahnsinnig sei?“, heißt es zu Anfang von Edgar Allan Poes (1809 – 1849) Erzählung „Das verräterische Herz“ („The Tell-Tale Heart, 1843). Weiter: „Die Krankheit hatte meine Sinne geschärft – nicht zerstört – nicht abgestumpft. So verfügte ich vor allem über ein messerscharfes Gehör. Ich hörte alle Dinge zwischen Himmel und Erde. Ich hörte vieles in der Hölle.“ Die Geschichte eines Verbrechens, erzählt von einem schizophrenen Mörder, der einen Mann tötet, weil er nicht erträgt, den eigenen Blick auf den Blick des Alten zu wenden und dessen „blassblaues Auge“ betrachten zu müssen; der Erzähler verrät sich letztlich selbst, nachdem er den Herzschlag des Toten unter den Dielen vernimmt, wo er das Opfer verborgen hat.

Man mag meinen, der Dichter Poe habe damit und mit vielen anderen seiner Texte hinreichendes getan, nicht nur für die junge Gattung der Kurzgeschichte, sondern auch für das Zustandekommen von Horror, Krimi und verwandter Suspensegenres. 2003 aber trat der Dichter unfreiwillig in die Handlung ein, als der US-amerikanische Autor Louis Bayard „The Pale Blue Eye“ vorlegte, den Netflix nun wie jeden halbwegs gut verkauften Roman unter der Sonne zum Angucken aufbereitete und dabei wie so oft unnötige Überlänge herstellte.

Nicht ohne Christian Bale in der Hauptrolle. Doch auch wenn der die Körpertransformation für seine Rollen in einer Art performativem Doppelbindungseffekt betreibt – ein Knochengerüst in „Der Maschinist“ 2004 und nur ein Jahr später in „Batman Begins“ die kampfsportliche Fledermuskelmaus –, für den Poeten, dessen Optik verrät, dass Gott ihn beim Küssen übergangen hat, reicht das nicht. Den Poe gibt stattdessen der nunmehr hagere Harry Melling, der einst den Harry-Potter-Triezer und Muggel Dudley Dursley gab.

Der Poe aber ist nicht die Hauptfigur des Films unter der Regie von Scott Cooper („Crazy Heart“, 2009), auch wenn der deutsche Titel zumindest scheinbar in die Irre führt. Das ist stattdessen Augustus Landor, ein unentspannter Columbo, der sichtlich wenig Hang zu Impulskontrolle hat, wenn er ins Verhör geht.

Und die Ausquetschungen sind so zahlreich wie die Verdächtigen auf der winterlichen Militärakademie im Jahr 1830. Bale als Bulle ist nicht der einzige, der über den Schnee geht, als pochten darunter so einige untote Herzen, die den Lebenden das ruhige Weiterleben missgönnen. Den kauzigen Kadetten Poe hält Landor sich nicht nur als Unterstützung, weil der eremitische Bulle und das mutterlose Muttersöhnchen darum wissen, dass es, bei allem, was Gaga und Zufall ist in der Welt, Scharniere zwischen den Wunderlichkeiten gibt. Wenn etwa einem Strangulierten vom Leichentisch weg die stillgelegte Pumpe entnommen wird und niemand will’s gewesen sein. Zwischen den Rätseln und ihrer Lösung steckt das, was auch Poes – also Autoren-Poes – moderne Helden wussten: Kausalität.

Rational aber ist, davon auszugehen, dass andere es nicht sind; in „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“ sind das die Vielen. Sei es der dilettantische Doktor (Toby Jones), dem die Obduktion gehörig misslingt oder seine auffällig den Alltag imitierende Frau (gespielt von Gillian Anderson, die sich als FBI-Agentin Scully in elf Staffeln „Akte X“ ausreichend angucken konnte, wie Aliens in Menschenhaut aussehen müssen). Selbstverständlich ist auch wer vom Teufel besessen; der britische Neurologe John Hughlings Jackson sollte ja auch erst später im 19. Jahrhundert die entscheidenden Erkenntnisse darüber gewinnen, was Epilepsie ist.

„Das Morbide steht Ihnen besser als Ihre Uniform“, weist die Arzttochter Lea (Lucy Boynton) beim Lustwandeln über den Friedhof Mobbingopfer und Jungautor Poe in seine soziale Rolle ein. Natürlich stören das Blau und der drollige Armeehut die Optik des Original Goth-Kids Poe. Was sie aber grundsätzlich über seinen Beruf ausdrückt: Er soll nicht den Helden geben, denn er hat uns mehr zu geben, aus Himmel, Erde und Hölle, und zwar bücherweise.


Der denkwürdige Fall des Mr. Poe
USA 2022
Regie: Scott Cooper
Unter anderem mit Christian Bale, Harry Melling, Gillian Anderson und Lucy Boynton
Streambar auf Netflix


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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Blau steht ihm nicht", UZ vom 13. Januar 2023



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