Der Reisebericht des Staatsratsvorsitzenden a. D.

China – wie Egon Krenz es sieht

Von Ulrich Sander

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Egon Krenz

China – wie ich es sehe

edition ost, Berlin 2018

155 Seiten, 12,99 Euro

Wir dürfen eine Erfahrung machen, die Menschen aus anderen Ländern bisher verwehrt geblieben ist und auch verwehrt bleiben wird: Deutsche Sozialisten haben in Egon Krenz einen Politiker, der radikale Selbstkritik übt und gleichwohl seinen Grundauffassungen treu bleibt, die er jedoch nicht verbissen verteidigt, sondern kritisch hinterfragt. Kein Politiker eines europäischen Landes mit ehemals sozialistischer Orientierung hat das getan, mal abgesehen von Michail Gorbatschow, aber der tut so, als hätte er nichts falsch gemacht. Man wüsste schon gern, wie Gorbatschow von einer Reise nach China berichten würde, wo die Lehren aus dem Untergang der UdSSR gezogen werden.

Wie Egon Krenz damit umgeht, das wissen wir nun. Er hat das Buch über seine China-Reise vorgelegt. Friedrich Engels schrieb: „Über geschichtliche Ereignisse beklagt man sich nicht, man bemüht sich im Gegenteil, ihre Ursachen zu verstehen und damit auch ihre Folgen, die noch lange nicht erschöpft sind.“ Ob Egon Krenz sich diese Erkenntnis aus dem Jahre 1885 vor Augen hielt?

Jeder, der Genaues wissen will, wie es zum Fortbestand, ja auch den Erfolgen Chinas im Gegensatz zum Untergang der DDR und der UdSSR kam, der sollte das Buch von Egon Krenz lesen. Auch wie es wirklich um seine Saarbrücker Erklärung zum „Platz des himmlischen Friedens“ stand, verdient Beachtung. Allerdings stuft Krenz den „Zwischenfall des 4. Juni“ herunter, bei dem auch nach amtlichen Angaben 300 Todesopfer des Militäreinsatzes gegen Demonstranten in Peking zu beklagen waren. Krenz hat später jedenfalls gegen Behauptungen erfolgreich prozessiert, ihm hätte im Herbst 1989 eine chinesische Lösung vorgeschwebt. Über seine vernünftige Politik als letztes Staatsoberhaupt der DDR wird viel zu wenig mit Gerechtigkeit geurteilt.

Vor allem ist dies wichtig: Verglichen mit allen Entwicklungsländern, die um 1949 und bald darauf frei kamen – vor allem Indien –, ist China für Krenz ein leuchtendes Vorbild. Wer den Zustand des Landes beurteilen will, muss den Kampf gegen den Hunger und die Armut in Rechnung stellen, der in China nicht zu Ende ist, aber wie nirgendwo sonst so erfolgreich war.

Und kein Land der Erde hat ein solches Friedensprogramm wie China – es ist auch in keinen Krieg aktuell involviert. Allerdings wüsste ich schon gern mehr darüber, was Egon Krenz zur exorbitanten Steigerung des chinesischen Rüstungsexports meint. Trotz dieser Exporte lag China allerdings 2013 mit fünf Prozent des Marktanteils immer noch hinter Deutschland mit sieben Prozent und natürlich hinter den USA mit 30 Prozent. (lt. „Spiegel“)

Hätte man die Reformen unter Walter Ulbricht konsequent fortgesetzt, so wie man die Reformen und die Politik der Öffnung seit Deng Xiaoping in China umsetzte, dann hätte die DDR vielleicht eine Chance gehabt. In diesem Zusammenhang könnte aber das, was Krenz über die chinesischen Kapitalisten schreibt und auch, was er über den Fehler schreibt, in der DDR jeglichen Restkapitalismus zu beseitigen, auf Widerspruch stoßen. Doch Karl Marx hatte schon 1867 gemahnt: „Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist (…), kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.“ Geht China diesen Weg? Mit einer marktwirtschaftlichen Variante mit börsennotierten Firmen, die international agieren können? Die chinesische Führung ist sich sicher: So kommt China an die internationale Spitze und sichert im Inneren einen wenn auch bescheidenen Wohlstand für immer mehr Menschen und nicht nur für wenige.

Dass zwei Entwicklungsformen nebeneinander in einem Land koexistieren ist gar nicht so selten. Es kommt immer darauf an, welche dominiert. Auch Lenin versuchte es mit kapitalistischen Methoden. Und der Adel und die Bourgeoisie befanden sich im 19. Jahrhundert in Deutschland in erbittertem Streit; die Arbeiterklasse unterstützte 1848 die Bourgeoisie, doch diese verriet ihren Bündnispartner, und der Adel wurde Teil der Bourgeoisie – gegen die arbeitenden Menschen handelnd. Für Egon Krenz ist ausgemacht, dass die kommunistische Partei sich durchsetzt, die auch kapitalistische Kräfte zur Weiterentwicklung des Landes nutzt, und dass letztlich der sozialistische Weg dominiert.

Viele Fragen werden beantwortet, und hier soll nicht alles verraten werden. Man lese selbst, was z. B. mit dem Projekt der Seidenstraßen gemeint ist.

Die Entwicklung Chinas unter Leitung der KP kann ein Mut machendes Beispiel für die gesamte weltweite Arbeiterbewegung sein, meint Egon Krenz. Sein Rat kann für Linke wichtig sein, denn es kommt ja nicht oft vor, dass man mal aufatmen kann angesichts der Welt, die aus den Fugen ist, wie es sogar der Bundespräsident immer sagt.

Einen gewissen Mangel des Buches sehe ich darin, dass Krenz mit der Tür ins Haus fällt und mit den Schlussfolgerungen beginnt, wo er besser auf dieselben hingearbeitet hätte. Also: Kein Gedanke weniger, aber noch überzeugender aufgestellt. Zudem bleiben bei Krenz viel gestellte Fragen unberücksichtigt: Die nach den Massenüberwachungen der Bürger und der häufigen Anwendung der Todesstrafe. Und auch jene nach dem Schicksal der Wanderarbeiter.

Abseits vom Reisebericht gibt das Buch Einblick zur Beantwortung vieler Fragen, Einblicke und Hintergrundinformationen aus der Perspektive eines Politikers, der unmittelbarer Zeuge und Akteur war. Egon Krenz berichtet von frühen Versuchen, wieder zu Gemeinsamkeiten der sozialistischen Länder, einschließlich Chinas zu gelangen – und wie er dabei in Gegensatz zur KPdSU geriet. Er informiert unter anderem über Gespräche mit Gorbatschow und darüber, wie dieser die DDR-Führung hintergangen hat.

Wie in der Außen-, so auch in der Innenpolitik. Krenz erinnert an Informationen, die er besaß und denen die DDR-Führung zuwiderhandelte. Und die auch jeder wissen konnte, dazu brauchte es keine internen Forschungsberichte und Meinungsumfragen wie jene über das, was die DDR-Bevölkerung sich ersehnte: darunter die Möglichkeit zu reisen und zu konsumieren, vor allem ein Auto zu haben. Anders in China. Selbst ohne nach China zu reisen wissen wir, wie es sich dort mit der Versorgung mit Autos verhält – es gibt mehr davon als die Umwelt verträgt. Und wir alle haben doch schon chinesische Touristen erlebt. Ein solcher Tourismus war den DDR-Bürgern versagt.

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"China – wie Egon Krenz es sieht", UZ vom 8. Juni 2018



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