Booster-Impfungen für die Alten kommen viel zu spät. Pharma-Industrie ist auf der Gewinnerseite

Corona-Tote sind selbstgemacht

Robert Profan

Wie lange von Virologen und Epidemiologen vorhergesagt, steigen die Zahlen der symptomatischen Covid-19-Infektionen in Deutschland exponentiell, das heißt nahezu explosionsartig. Angesichts überlasteter Intensivstationen ging in einer öffentlichen Stellungnahme selbst dem sonst so hölzern daherkommenden RKI-Präsidenten Lothar Wieler der Gaul durch. Trotz seiner Warnungen seit Monaten an die Politik kam bisher keine tatkräftige Reaktion, sondern im Gegenteil wurden wohl wahlkampfbedingt nur hoffnungsvolle rosige Zeiten eines Pandemieendes herbeigeredet. Doch das Virus und insbesondere die ­Delta-Variante sind eben unerbittlich und lassen sich durch einen Wahlkampf und anschließende Koalitionsverhandlungen nicht aufhalten.

Was wäre nötig gewesen?
Was hätten Politik und insbesondere Gesundheitsminister Jens Spahn schon längst machen müssen? Es war klar und durch Studien mehrfach gezeigt, dass bei den Alten, bei Senioren- und Pflegeheimbewohnern der Schutz durch die Impfung nach spätestens vier bis sechs Monaten nach der Erstimpfung deutlich nachlässt. Daher hatte die Ständige Impfkommission (Stiko) schon in ihrer Presseerklärung vom 7. Oktober dringend empfohlen, allen über 70-Jährigen eine Auffrischungsimpfung zu geben. Bei „BewohnerInnen und Betreuten in Einrichtungen der Pflege für alte Menschen“ sollten „aufgrund des erhöhten Ausbruchspotentials … auch BewohnerInnen im Alter von unter 70 Jahren eingeschlossen“ werden. Darüber hinaus sollten solche Auffrischungen auch „Pflegepersonal und andere Tätige mit direktem Kontakt mit den zu Pflegenden“ erhalten. Während die Politiker sonst bereits Wochen vor einer Empfehlung der Stiko mit besserwisserischer Anmaßung wenig sinnvolle Maßnahmen umsetzten, haben sie hier völlig versagt. Anstatt gezielt Impfteams zu aktivieren, wurden im Gegenteil die Impfzentren geschlossen. Auch der schnelle Schutz der Heimbewohner zum Beispiel durch verbindlich vorgeschriebene kostenlose Tests für Beschäftigte und Besucher wurde unterlassen.

Auch Geimpfte infizieren sich
Seit langem ist klar, dass auch Geimpfte drei bis vier Monate nach der Impfung wieder mit dem Corona­virus infiziert sein können – wenn auch meist symptomlos. Sie können dann andere Personen wieder anstecken, obwohl sie selbst weiter vor einer Erkrankung geschützt sind. Das liegt daran, dass eine ausreichend hohe Konzentration von Antikörpern gegen das Virus auf den Schleimhäuten in Mund, Nase und Rachen nach der Impfung nur anfangs vorhanden ist. Nur in dieser Zeit werden die Viren sofort abgetötet und können folglich nicht mehr übertragen werden.
Nach der Impfung ist ein gesundes Immunsystem in der Lage, schnell Antikörper zu produzieren (Kurzzeitwirkung) und gleichzeitig Immungedächtniszellen zu produzieren, die den Geimpften über einen längeren Zeitraum vor Erkrankung schützen (Langzeitwirkung). Diese Gedächtniszellen des Immunsystems können nämlich dann, wenn eine Coronavirusinfektion auftritt, sofort reagieren und die Antikörperproduktion umgehend wieder hochfahren. Wie lange dieser Schutz reicht, weiß man heute noch nicht genau, mindestens aber etwa ein Jahr. Das alles funktioniert natürlich bei jungen Menschen mit gutem Immunsystem besser und anhaltender als bei älteren Personen oder Personen, die auf Grund anderer Erkrankungen ein geschwächtes Immunsystem haben. Das ist der Grund, warum ältere Menschen einerseits durch Infektionen stärker gefährdet sind und andererseits der Schutz auch nach einer Impfung nicht so gut ist und so lange anhält wie bei jüngeren.

Ältere brauchen Schutz
Deshalb sind die über 60-Jährigen schon während der ganzen Pandemie deutlich gefährdeter als die unter 60-Jährigen. Das gilt natürlich auch jetzt, insbesondere da die Impfungen der älteren Personen am längsten zurückliegen. Eine systematische Booster- oder Auffrischimpfung hätte bei ihnen schon längst stattfinden müssen. Hier hat die Politik eindeutig versagt. Die Toten in den Heimen durch Corona sind die Folge dieses Versagens. Auch die Situation auf den Intensivstationen wäre immer noch entspannt, wenn Bundesregierung und Länderregierungen einschließlich des Supermanns Markus Söder wenigstens auf die dringenden Empfehlungen der Stiko reagiert hätten und nicht nur dann, wenn es ihnen in das politische Kalkül passt.

Weil die Situation jetzt so ist, wie sie ist, müssten die verantwortlichen Politiker eigentlich für etwa 14 Tage einen harten Lockdown mit Ausnahme der Schulen beschließen. Doch sie haben wieder nur Stückwerk beschlossen unter Einschränkung von kulturellen und persönlichen Freiheiten. Das wird nicht reichen zum schnellen Brechen der 4. Infektionswelle. Deshalb hat die Stiko inzwischen auch grünes Licht gegeben für Booster-Impfungen für alle über 18-Jährigen. „Ziele der Ausweitung der bestehenden Auffrisch-Impfempfehlung … (sind) die Reduktion der Übertragung von Sars-CoV-2 in der deutschen Bevölkerung, um Infektionswellen abzuschwächen und zusätzliche schwere Erkrankungs- und Todesfälle zu verhindern.“ Klar weist die Stiko erneut darauf hin, dass das Boostern von Alten Vorrang haben muss und die Impfung von noch nicht Geimpften entscheidend ist.

Aufklärung ist nötig
Hierin liegt eines der Hauptversäumnisse der Bundes- und Länderregierungen. Nicht nur flexible Impfangebote vor Ort im Stadtteil, im Einkaufszentrum, in Fußgängerzonen sind dafür notwendig, sondern insbesondere flächendeckende, gut verständliche und wiederholte persönliche Aufklärungen, bei denen auch auf die Ängste und Vorurteile der Menschen im Einzelnen eingegangen werden kann. Denn die Wenigsten der bisher nicht Geimpften sind überzeugte Impfverweigerer. Eine Aufklärungsoffensive muss die Grundlage einer Impfoffensive sein.

Die derzeitige Situation – „Ganz Deutschland ist ein Ausbruch“ – ist dem Pharma-Konzern Pfizer/BioNTech nur recht. Seine Gewinne schnellen in die Höhe. Das nach dem Versagen der Politik jetzt notwendige massenhafte Boostern ist ein warmer Kapitalregen.

Das politische Versagen trotz unseres hochtechnifizierten Gesundheitswesens zeigt schlaglichtartig: Nicht der arbeitende Mensch steht im Mittelpunkt unserer kapitalistischen Gesellschaft, weder im Gesundheitswesen noch sonstwo. Ein planmäßiges Handeln nach den Bedürfnissen der Menschen ist nicht umsetzbar, solange der Monopolkapitalismus das Sagen hat. Selbst wenn es zu einem „Notfall nationalen Ausmaßes“ kommt, kann nicht ausreichend reagiert werden, da die zentralisierten Strukturen dafür fehlen. Einzelinteressen von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, Kapitalinvestoren, Pharma- und Geräteindustrie sowie sogenannten gemeinnützigen Organisationen machen ein planvolles Vorgehen unmöglich. Gleichzeitig fehlt das notwendige Personal vornehmlich im Krankenhaus wie auch im öffentlichen Gesundheitswesen durch die jahrelange Sparpolitik des Staates, der als Sachwalter des Gesamtkapitals die Kosten für die Arbeitskraft möglichst klein halten muss.

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"Corona-Tote sind selbstgemacht", UZ vom 26. November 2021



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