Ernesto Che Guevaras Wirken in Afrika • Von André Scheer

Der Kampf gegen den Imperialismus kennt keine Grenzen

Ernesto „Che“ Guevara ist eine Legende. Meist erscheint er als idealistischer Abenteurer und heroische Kultfigur, doch über seine politischen Ideen und Überzeugungen ist erstaunlich wenig bekannt. Diese Lücke schließt das Buch „Che Guevara“ von André Scheer, das in diesen Tagen in der Reihe „Basiswissen“ des Papyrossa-Verlags erschienen ist. Wir geben an dieser Stelle einen gekürzten Auszug aus dem Kapitel „In Afrika“ wieder.

 

Am 11. Dezember 1964 trat Che Guevara in New York vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen auf. Seine Rede war eine einzige Anklage gegen den Imperialismus, unterfüttert mit Beispielen der jüngeren Vergangenheit. Einen besonderen Platz nahm der Kampf der noch unter Kolonialherrschaft leidenden Länder ein, und schon in den ersten Minuten seiner Rede unterstrich Che: „Die letzte Stunde des Kolonialismus hat geschlagen, und Millionen von Einwohnern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas haben sich erhoben, um ein neues Leben zu suchen; sie haben ihr Recht auf Selbstbestimmung und auf unabhängige Entwicklung ihrer Länder durchgesetzt.“ (…) Zugleich machte er deutlich: „Als Marxisten vertreten wir die Meinung, dass die friedliche Koexistenz zwischen Staaten nicht die Koexistenz zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern, zwischen Unterdrückern und Unterdrückten umfasst. Es gibt ein auch durch diese Organisation erklärtes Recht auf völlige Unabhängigkeit gegenüber allen Formen kolonialer Unterdrückung. Daher bekräftigen wir unsere Solidarität mit den heute noch kolonialisierten Völkern des portugiesisch genannten Guinea, Angolas und Mosambiks. Wir sind bereit, sie gemäß der Kairoer Erklärung im Rahmen unserer Möglichkeiten zu unterstützen.“

Che bezog sich hier auf die Abschlusserklärung des zweiten Gipfeltreffens der Bewegung der Nichtpaktgebundenen, das vom 5. bis 10. Oktober 1964 in der ägyptischen Hauptstadt stattgefunden hatte. Die Kairoer Erklärung verurteilte in scharfen Worten den Kolonialismus und rief die Teilnehmerländer auf, „den Freiheitskämpfern in den unter portugiesischer Kolonialherrschaft stehenden Gebieten alle notwendige materielle, finanzielle und militärische Unterstützung“ zu gewähren. Doch auch wenn die militärische Hilfe nur für die portugiesischen Kolonien Guinea-Bissau, Angola und Mosambik bestimmt war, zog sich der Aufruf zur Solidarität mit dem Freiheitskampf und die Verurteilung der imperialistischen Einflussnahme auf dem Kontinent durch das gesamte Dokument. Die kubanische Führung und Che Guevara konnten sich also aufgerufen fühlen, den Völkern Afrikas gegen den Imperialismus zu Hilfe zu kommen. Es komme nicht nur darauf an, so Che später, „sich entschlossen gegen den Yankee-Imperialismus zu verteidigen; es ist nötig, ihn an seinen Stützpunkten anzugreifen, auf den Kolonial- und Neokolonialterritorien, die ihm als Basis für seine Weltherrschaft dienen“.

Direkt aus New York brach Che zu einer mehrmonatigen Reise durch den afrikanischen Kontinent auf, die nur durch einen „Abstecher“ in die Volksrepublik China sowie Zwischenlandungen in Europa unterbrochen wurde. (…)

Von Algier aus besuchte Che Mali, anschließend Kongo-Brazzaville, Guinea, Ghana und Dahomey (das heutige Benin). Unter anderem führte er Gespräche mit Agostinho Neto, dem Vorsitzenden der Volksbefreiungsbewegung Angolas (MPLA). Das war der Auftakt zu einer über Jahrzehnte andauernden Zusammenarbeit zwischen der MPLA und Kuba, deren Höhepunkt in den 70er und 80er Jahren die Präsenz Zehntausender kubanischer Soldaten in Angola war. Sie brachten 1988 dem südafrikanischen Rassistenregime eine vernichtende Niederlage bei und leisteten so einen entscheidenden Beitrag zur Verteidigung Angolas, zur Unabhängigkeit Namibias und zum Sturz der Apartheid in Südafrika.

Von Journalisten nach den Gründen für seine Reise befragt, antwortete Che während seines Aufenthalts in Ghana, dass Kuba vielfach seine Identifikation mit den fortschrittlichen Ländern Afrikas betont habe, „aber unsere Kenntnis Afrikas ist gering“. Nun aber könne die kubanische Seite eine klarere Vorstellung davon bekommen, was die afrikanischen Länder für Wünsche und Möglichkeiten hinsichtlich einer gemeinsamen Entwicklung durch beiderseitige wirtschaftliche Beziehungen hätten. (…)

Algeriens Präsident Ahmed Ben Bella erinnerte sich Jahrzehnte später, 1997, in einem Artikel für die französische „Le Monde diplomatique“ an seine Gespräche mit Che während dessen Aufenthalten in Algier. Che sei überzeugt gewesen, dass Afrika das „schwächste Glied“ des Imperialismus sei und er dem Kontinent deshalb seine Anstrengungen widmen wolle. „Ich versuchte deutlich zu machen, dass es vielleicht nicht der beste Weg wäre, die revolutionäre Reifung zu unterstützen, die sich auf unserem Kontinent entwickelte. Eine bewaffnete Revolution kann und muss ausländische Unterstützung finden, aber sie muss zuerst die inneren Ressourcen schaffen, auf die sich ihr Kampf stützen kann.“ (…)

Zum Abschluss seiner Reisen durch den afrikanischen Kontinent nahm Che am 24. Februar 1965 in Algier am Zweiten Wirtschaftsseminar für afroasiatische Solidarität teil. Was damals niemand wusste: Seine Rede dort wurde zu seinem letzten Auftritt bei einer internationalen Veranstaltung. Wie bei seinen früheren Auftritten, etwa wenige Wochen zuvor in New York, bekräftigte Che die Verbundenheit mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten: „Wir wissen lediglich, dass nach politischen Diskussionen die UdSSR und Kuba für uns günstige Handelsabkommen vereinbart haben, durch die wir bis zu fünf Millionen Tonnen Zucker zu festen Preisen verkaufen werden, die über denen des sogenannten freien Zuckerweltmarktes liegen. Auch die Volksrepublik China zahlt diese Preise.“

Che skizzierte in seiner Ansprache seine Ansicht darüber, wie sozialistische Staaten den proletarischen Internationalismus praktizieren sollten: „In diesem Kampf auf Leben oder Tod gibt es keine Grenzen; wir können nicht indifferent bleiben angesichts der Ereignisse an irgendeiner Stelle in der Welt. Der Sieg eines Landes über den Imperialismus ist auch unser Sieg, so wie die Niederlage irgendeines Landes auch unsere Niederlage ist. Die Praktizierung des proletarischen Internationalismus ist nicht nur eine Pflicht für die Völker, die für eine bessere Zukunft kämpfen, sondern auch eine unverzichtbare Notwendigkeit. Wenn der imperialistische Feind, sei es der nordamerikanische oder ein anderer, Aktivitäten gegen die unterentwickelten Völker und die sozialistischen Staaten durchführt, dann bestimmt eine ganz elementare Logik die Notwendigkeit des Bündnisses zwischen den unterentwickelten Völkern und den sozialistischen Staaten. Wenn es keinen weiteren Grund für dieses Bündnis gäbe, so müsste der gemeinsame Feind bereits ein ausreichender Grund sein.“ Er sprach sich dafür aus, auch die Frage von Waffenlieferungen „gemäß den Regeln des proletarischen Internationalismus“ zu behandeln: „Wenn der Gedanke absurd ist, dass der Direktor eines sozialistischen Landes im Kriegszustand Zweifel an dem Sinn einer Lieferung von Panzern an eine Front hegt, weil dort keine Zahlungsgarantien gegeben werden können, so wäre nicht minder absurd die Vorstellung der Überprüfung der Zahlungsfähigkeit eines sich befreienden Volkes oder eines für die Verteidigung seiner Freiheit kämpfenden Volkes, das daher Waffen benötigt. In unserer Welt können die Waffen keine Ware bilden, sondern sie müssen im notwendigen und möglichen Umfang an die Völker geliefert werden, die sie verlangen im Kampf gegen den gemeinsamen Feind.“ Das sei die Einstellung, mit der die Sowjetunion und China Kuba unterstützten, so Che. Trotzdem ging er scharf mit den sozialistischen Staaten ins Gericht und warf ihnen sogar „taktische Komplizenschaft“ mit den westlichen Ausbeutern vor. Die sozialistischen Staaten hätten die Verpflichtung, den abhängigen Ländern zu helfen – es könne nicht die Rede von „Handel von gegenseitigem Nutzen“ sein. Dieser bedeute, dass die afrikanischen und asiatischen Länder „zu Weltmarktpreisen Rohstoffe verkaufen, die Schweiß und grenzenlose Leiden kosten“, während sie ebenfalls zu Weltmarktpreisen die in automatisierten Fabriken hergestellten Maschinen kaufen müssten. Ches Schlussfolgerung daraus: „Die Entwicklung der Länder, die nun den Weg ihrer Befreiung beginnen, müssen sich die sozialistischen Länder etwas kosten lassen.“ Bislang seien diese jedoch „in gewisser Weise Komplizen der imperialen Ausbeutung“.

Bei den afrikanischen Zuhörern soll die Rede sehr gut angekommen sein. Weniger entzückt war man in Moskau. Als Reaktion auf die Ansprache gab es offenbar eine diplomatische Intervention der Sowjetunion in Havanna, und nach der Rückkehr Guevaras nach Kuba gab es eine lange Unterredung zwischen ihm und Fidel Castro. Über die Inhalte dieses Gesprächs ist viel spekuliert worden. Es gibt aber keine belastbaren Anzeichen dafür, dass es zu einem echten Zerwürfnis zwischen beiden Comandantes gekommen wäre. Vielmehr dürfte im Mittelpunkt der Diskussionen gestanden haben, welche Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen in Afrika gezogen werden sollten. Che bekam freie Hand, um in Kuba Freiwillige für den Kampf in Afrika um sich zu scharen. Das Ziel war die Demokratische Republik Kongo.

Der Kongo hatte 1960 seine Unabhängigkeit von Belgien erlangt. Zum Regierungschef war Patrice Lumumba gewählt worden, ein Vertreter der radikalen antikolonialistischen Bewegung, der nach der Befreiung von der belgischen Herrschaft verhindern wollte, dass die gerade gegründete Demokratische Republik in neue Abhängigkeiten geraten würde. Seine Regierung wurde von Anfang an destabilisiert, es kam zu einer Militärrevolte und einer von Moise Tshombé geführten Sezessionsbewegung in der rohstoffreichen Provinz Katanga. In dieser Situation rief Lumumba die Vereinten Nationen um Hilfe, und auch belgische Soldaten kehrten in das afrikanische Land zurück. Doch statt die demokratische Regierung und die territoriale Integrität des Kongo zu verteidigen, tolerierten und unterstützten die UN-Truppen im September 1960 den Sturz Lumumbas durch Staatspräsident Kasavubu und den Oberkommandierenden der Streitkräfte, den späteren Diktator Joseph Mobutu. Patrice Lumumba wurde am 17. Januar 1961 von unter belgischem Befehl stehenden Soldaten ermordet.

Gegen die Diktatur erhoben sich verschiedene bewaffnete Gruppen. Die stärkste von ihnen war der Nationale Befreiungsrat (CNL) unter der Führung von Gaston Soumaliot und Laurent Kabila. Mitte 1964 kontrollierten die Truppen des CNL weite Teile des östlichen Kongo, während eine von Christophe Gbenye geführte Gruppierung den Großteil des übrigen Staatsgebiets unter ihrer Kontrolle hatte. Um eine von sozialistischen Kräften geführte Machtübernahme im Kongo zu verhindern, griffen die USA mit massiver Militärhilfe auf der Seite von Moise Tshombé ein, der im Juli 1964 die Macht im Kongo übernahm. Auch Belgien, das Fallschirmjäger entsandte, und das Rassistenregime Südafrikas griffen auf der Seite Tshombés in die Kämpfe ein.

Als Reaktion darauf kündigten Algerien und Ägypten, die damals an der Spitze der antiimperialistisch orientierten Staaten des Kontinents standen, ihre Unterstützung der Freiheitsbewegung mit Waffen und Soldaten an. Ausdrücklich baten sie auch andere Staaten um Unterstützung, was in Kuba auf offene Ohren stieß.

„1965 stellte sich Che an die Spitze einer Hundertschaft kubanischer Militärberater, die das kongolesische Volk unterstützen sollten“, erinnerte sich Ches Kampfgefährte Ulises Estrada Lescaille im Mai 2007 in einem Artikel für die kubanische Zeitschrift „Bohemia“. „Während der Rundgänge durch die Operationsgebiete der kongolesischen Guerilla wurde ich Zeuge des Elends, in dem die Bauern lebten, des tief verwurzelten Stammesdenkens neben den patriarchalen und feudalen Systemen, der Sklaverei und den Religionen. All diese Phänomene wirkten gegen die umfassende organisierte Entwicklung des bewaffneten Kampfes und waren der Grund dafür, dass die Kubaner ihre Arbeit als Militärberater zur Seite schoben und gemeinsam mit den kongolesischen Patrioten kämpften, da dies die effizientere Form des Guerillatrainings und für die Kampfmoral unserer Internationalisten war.“

Die kongolesischen Rebellen wurden nicht darüber informiert, dass der damals bereits weltberühmte Che an der Spitze des Kontingents aus Kuba stand. Sie wurden vor vollendete Tatsachen gestellt und waren über die so entstandene Situation nicht glücklich. In einer 2016 vom österreichischen Fernsehen ORF ausgestrahlten TV-Dokumentation „Fidel, der Che und die afrikanische Odyssee“ erinnerte sich Placide Kitungwa, der damals einer der führenden Kommandeure der Aufständischen war: „Eine Persönlichkeit vom Schlag eines Che Guevara zu Gast zu haben, bedeutete eine große Verantwortung. Wir waren beunruhigt, dass die Amerikaner herausfinden könnten, dass Ernesto Che Guevara im Kongo war und dass dann alles auf den Kongo einprasseln würde. Wir freuten uns zwar über die Kameraden, aber nicht über ihn.“ Tatsächlich fanden die US-Geheimdienste bald heraus, dass der seit Monaten aus der Öffentlichkeit verschwundene Che im Kongo aktiv war. Sie intensivierten die Bekämpfung der Aufständischen, engagierten Söldner und blockierten die Nachschubrouten der Rebellen über den Tanganjika-See. (…)

Letztlich endete der Kampf im Kongo mit einer Niederlage. Am 20. November 1965 mussten sich die Kubaner aus dem Kongo zurückziehen. Che notierte in sein Tagebuch: „Es gab keine Spur von Großartigkeit in diesem Rückzug.“ Der Krieg im Kongo ging weiter. Vier Tage später putschte sich Mobutu Sese Seko an die Macht. Erst 1997 wurde er von den Aufständischen um Laurent-Désiré Kabila gestürzt – demselben Kommandeur, den Che Jahrzehnte zuvor unterstützen wollte.

Der Rückweg nach Kuba war Che versperrt. Vor seiner Abreise hatte er seinen berühmten Abschiedsbrief geschrieben, den Fidel Castro Anfang 1965 auf dem Gründungskongress der Kommunistischen Partei Kubas verlesen hatte. Che schrieb darin, dass „man in einer Revolution triumphiert oder stirbt (wenn es eine richtige ist)“. Und weiter: „Ich habe mich immer mit der Außenpolitik unserer Revolution identifiziert und tue es auch weiterhin. Wo immer ich auch bin, werde ich die Verantwortung fühlen, ein kubanischer Revolutionär zu sein und als solcher werde ich handeln.“

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"Der Kampf gegen den Imperialismus kennt keine Grenzen", UZ vom 22. Februar 2019



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