Zur Brecht-Biografie von Stephen Parker

Der Marxist aber ist krank

Von Rüdiger Bernhardt

Stephen Parker

Brecht. Eine Biographie

Aus dem Englischen von Ulrich Fries und Irmgard Müller

Berlin. Suhrkamp 2018

1028 Seiten, 58,- Euro

Die umfangreiche Brecht-Biografie erschien 2014 im englischen Original. Der Suhrkamp Verlag veröffentlichte sie zum 120. Geburtstag des Dichters auf Deutsch (Übersetzung: Ulrich Fried, Irmgard Müller). Dass dieses über tausendseitige Buch problemlos lesbar ist, vom Sprachlichen her, ist den Übersetzern zu danken. Dass es zahlreiche Informationen vermittelt, auch über Bertolt Brecht ­hinaus, geht auf den Autor zurück. Dass vieles zu ergänzen, zu korrigieren und zu hinterfragen ist, bedarf des wissenden Lesers. Der muss sich allerdings über den Klappentext hinweggesetzt haben, der „die endgültige Darstellung von Bertolt Brechts Leben und Werk“ verspricht.

Lassen wir diese unhaltbare Qualifizierung beiseite. Tragfähig bewertet Parker Brechts Haltung bei seiner Übersiedlung in den Osten Deutschlands: Brecht „war der felsenfesten Überzeugung, dass ein revolutionärer Sozialismus der liberalen Demokratie überlegen sei“. Parker weist auf die von den Westmächten verhinderten „fortschrittlichen Initiativen der Sowjetunion“ hin und darauf, dass die westlichen Alliierten faschistische Haltungen erhielten und reproduzierten. Dagegen trat Brecht an. Auf den „mit messerscharfer Sprache begabten Kriegsgegner“ Brecht als Protagonisten der Darstellung wird hingewiesen und damit ein Ziel seines Schaffens benannt.

Doch werden die politischen Wertungen überlagert: Schon im Eröffnungskapitel findet sich, scheinbar beiläufig, ein Hinweis, der sich zu einer Hauptthese entwickelt: Der erste Teil zeichne „das Bild eines kränklichen, überempfindlichen Kindes, von den Gleichaltrigen isoliert und voll und ganz beschäftigt mit seinen Krankheiten und seiner Poesie“. Die Ursachen seines Schaffens werden deutlicher, „die nackte physische Realität des Todes und dessen Angriff auf den Körper“ hätten Spuren in Brechts Schaffen hinterlassen. Krankheitsbeschreibungen füllen Abschnitte, Seiten, medizinische Begriffe dringen auch in politische Inhalte ein („die Paranoia der SED“). Brechts Krankheiten seien die Voraussetzungen für sein Werk; diese These durchzieht das Buch. Statt gesellschaftskritischer und ökonomisch-politischer Ursachen für Brechts Werk sieht Parker hauptsächlich Brechts Krankheiten und seinen biophysikalischen Materialismus, die ihn, den „Ketzer“, in Konflikt mit „der kommunistischen Orthodoxie“ gebracht hätten. Einfacher gesagt: Brechts Marxismus war letztlich metaphysisch und die Folge einer lebenslangen vielschichtigen Erkrankung. „Damit soll nicht gesagt werden, dass der Ursprung von Brechts Genie in dieser Krankheit liegt.“  Das aber ist die Grundthese des Buches. Von früh an habe ein Zusammenhang „zwischen Kranksein und Schreiben bestanden“, Brecht erfuhr die Welt durch „einen deutlich funktionsgestörten Organismus“, Handlungen seien, „verbunden mit seinem labilen Gesundheitszustand“, „auf einen zerstörerischen Cocktail“ hinausgelaufen. Statt eines politischen Ziels hatte Parkers Brecht immer „seine eigene Sterblichkeit vor Augen“.

Irritieren diese Betrachtungen, so vergrößern Einseitigkeiten die Irritationen: Was versteht man unter „der eingeschränkten, von der SED bevorzugten Interpretation des klassischen Humanismus“? Indem sich Brecht einer abweichenden Lesart zuwendet, erscheint er wie ein Dissident; dieser Anspruch wird weitergeführt: Brecht sei der „Vorläufer jener ‚kritisch-loyalen’ DDR-Künstler“ gewesen, die die westdeutsche Presse „als Dissidenten feierte“. Es sind zahllose Versuche, um Brecht und die DDR im unversöhnlichen Widerspruch zu sehen; Widersprüche, die in den neu entstehenden Verhältnissen an der Tagesordnung waren, werden zu existenzbedrohenden Kämpfen stilisiert. Entsprechend wird mit den Fakten umgegangen.

Wesentliches aus der Brecht-Forschung wie die zahlreichen bei Hans Mayer geschriebenen Dissertationen und Mayers Buch „Brecht“ (1996), seine Briefe über Brecht und anderes wie die „Brecht-Kritiken“ von Ernst Schumacher in mehreren Bänden scheint Parker, wie überhaupt die marxistische Sekundärliteratur, nicht zu kennen oder nicht kennen zu wollen. Brechts Mitarbeit an der Zeitschrift „Das Wort“ habe „seinem Ruf enorm“ geschadet, das hört man zum ersten Mal. Tatsachen werden verändert, um das beabsichtigte negative Bild zu erreichen: Die Befreiung vom Faschismus wird verdeckt von der Roten Armee und die auf ihrem „Marsch durch Deutschland in Richtung Berlin hinterlassene Spur der Vergewaltigungen und Zerstörungen“. Ehe die Rote Armee nach Berlin marschierte, gab es auf dem Weg von Moskau und Stalingrad wohl nur „blühende Landschaften“, gepflanzt von der faschistischen Wehrmacht.

Eine Danksagung nennt zahlreiche Menschen, die Parker unterstützten und halfen, darunter Wissenschaftler und Archive. Da ist es verwunderlich, dass so viele Ungenauigkeiten unterlaufen, so viele Fehler und so viele Lücken geblieben sind. Er hätte einen Berater aus dem Umkreis Brechts wählen oder dessen Schriften lesen sollen: Manfred Wekwerth auf den „Regieassistenten“ zu reduzieren, vergibt das ebenso wie auf den sowjetischen Kulturoffizier Ilja Fradkin als Brecht-Biografen zu verzichten, der die wichtigste russische Biografie geschrieben hat. Lücken sind zahlreich: Brechts Schüler Volker Braun und Peter Hacks werden nicht, Müller beiläufig erwähnt. Brecht habe, nach Müller, „die zerstörerische Kraft des großstädtischen Lebens in der modernen Welt“ extrapoliert und daraus seine Grunderfahrung gewonnen, die aber eine politisch-ökonomische und keine urbane war. Weiter weg von seinen Zielen kann Brecht nicht angesiedelt werden; dass Müller in seinem Werk in der Nachfolge Brechts scharfsinnig die Konturen des Kommunismus bestimmte, wird verdrängt.

Gespräche zwischen Brecht und seinen Mitarbeitern fehlen, Brecht-Schüler wie Hans Bunge – stellvertretend für viele genannt – werden auf simple Nebenbeschäftigungen reduziert, Brechts Gedichte, gewidmet befreundeten Autoren wie Martin Andersen-Nexö, fallen einschließlich des Freundes unter den Tisch. Die gesamte Entwicklung in Russland und der Sowjetunion seit 1905 wird einzig und allein unter das Phänomen des „Massenmörders Stalin“ gestellt, als habe es nichts anderes gegeben: „Die Unterdrückung, die 1905 eine Revolution ausgelöst hatte, war unter dem Massenmörder Stalin zum Alltag geworden.“ Pauschalisierungen einerseits (nach dem Modell: Ulbricht gelang es 1953 „die Bevölkerung der DDR wieder unter Kontrolle zu bringen“, als wäre die Bevölkerung außer Kontrolle geraten, wechseln mit unhaltbaren Glorifizierungen andererseits (nach dem Modell: Adenauer „gilt als außerordentlich erfolgreicher Bundeskanzler, dem es gelang, eine politische Kultur zu begründen …“). Eingangs bedankt sich der Autor bei vielen, auch bei seiner Tochter, für die „Auswahl der Fotografien“, die Fotos vermisst man im Buch.

Die „endgültige Darstellung von Bertolt Brechts Leben und Werk“, so der Klappentext des Verlages? Das kann für Menschen gelten, die den Marxismus für eine Krankheit halten. Für Menschen, die Genaues und Gesichertes wissen wollen über den Dichter Bertolt Brecht und seine Dichtungen, gilt das nicht.

  • Aktuelle Beiträge
Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Der Marxist aber ist krank", UZ vom 26. Oktober 2018



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Baum.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit