Von der Tet-Offensive 1968 zum Pariser Abkommen 1973

Der Wendepunkt im Vietnam-Krieg

Von Stefan Kühner

Kriegsgespenster, die sich ins Gedächtnis einnisten

Was passiert aus einem Kind, das in einem amerikanischen Kaff und in einer stockkonservativen Familie aufwächst, in der es seit Generationen nur einen Beruf gibt, den des Soldaten? Und in der ein Vater keinen anderen Gedanken hat, als seinen Sohn ebenfalls zum Soldaten zu machen? Das Kind wird selbst Soldat und geht aus voller Überzeugung nach Vietnam. Auch die Antikriegsbewegung, die 1968 immer stärker wird, und seine Freundin Eleonore schaffen es nicht, seine Einstellung zu ändern. Im Militär Camp wird ihm unablässig ins Gehirn gehämmert „Ihr müsst die Schlitzaugen töten-töten-töten“. Aber die realen Toten in Vietnam graben sich bis in die letzten Winkels des Gedächtnisses von GI Marlin McDate ein und erschüttern seine Überzeugung.

Den 27. Januar 1973, den Tag, an dem das Pariser Friedensabkommen unterzeichnet wurde, erlebt er in einer Saigoner Bar und weiß plötzlich nicht mehr, was er nun machen soll. Eine vietnamesische Ärztin und Physiotherapeutin wird ihm nach einer Verletzung zur Freundin und lässt in ihm die Erkenntnis wachsen, dass er und sein Land Vietnam zerstört haben. Er kehrt in die USA zurück und grübelt weiter über diesen Krieg. 1979 kehrt er seinem Heimatland den Rücken und beginnt zusammen mit der Freundin, die ihm die Augen öffnete, als Mitarbeiter humanitärer Organisationen, Minen zu räumen und sich um Agent Orange Opfer zu kümmern. Kann er damit auch die Gespenster in seinem Gedächtnis verscheuchen?Stefan Kühner

Luca Pollini: Rückkehr nach Vietnam – Auf der Seite des Feindes, Zambon Verlag, Frankfurt 2017, 15, – Euro ISBN, 978–3-88975–265-9

 

Das vietnamesische Neujahrsfest Tet Nguyen Dan

Das vietnamesische Neujahrsfest hat keinen festen Termin, sondern variiert nach dem Mond-Kalender und dauert drei Tage. Es fängt am Vortag des ersten Neumondes nach der Wintersonnenwende an. In diesem Jahr ist es der 16. Februar. Das ‚Jahr des Hahns‘ geht zu Ende, es kommt das ‚Jahr des Hundes‘. Die Jahre in Vietnam tragen Tiernamen und verlaufen in einem Rhythmus von 12 Jahren: Schlange, Pferd, Ziege, Affe, Hahn, Hund, Schwein, Ratte, Büffel, Tiger, Katze und Drache.

Tet Nguyen Dan ist das wichtigste Familienfest in Vietnam mit einer uralten Tradition. Die Familien besuchen sich gegenseitig, vor allem der Besuch der Großeltern ist obligatorisch. Die Menschen kleiden sich neu ein, die Kinder erhalten Geschenke. Die Vorbereitungen auf das Fest beginnen bereits eine Woche vorher. Da wird dem Küchengeist Ong Tao geopfert, damit dieser bei seinem Besuch im Himmel Gutes über die Familie berichtet. Dann heißt es: Einkaufen, aufräumen, putzen. Wichtig ist es außerdem, seine Schulden zurückzubezahlen, um sorgenfrei ins neue Jahr starten zu können. Alle Straßen werden mit Girlanden, Transparenten und neuerdings mit Lichterketten geschmückt.

Vor 45 Jahren unterzeichneten am 27. Januar 1973 die Delegationen der Demokratischen Republik Vietnam (Nordvietnam), der Provisorischen Revolutionären Regierung (PRR) Südvietnams (Administration der Befreiungsfront), der Vereinigten Staaten von Amerika sowie der Republik Vietnam (Südvietnam unter der Regierung unter Nguyen Van Thieu) in Paris das Neun-Punkte-Abkommen zur Beendigung des Kriegs in Vietnam und zum Abzug der USA-Truppen aus Südvietnam. Die Verhandlungsführer waren Henry Kissinger für die USA, Frau Nguyen Thi Binh für die PRR Vietnams und Le Duc Tho für die DRV.

Kernpunkte des Abkommens waren:

1. Die USA respektieren die Unabhängigkeit, territoriale Souveränität und Einheit Vietnams. 2. Die USA werden innerhalb von 60 Tagen ihre gesamten Truppen und ihr Militärpersonal aus Vietnam abziehen. Die Verminung der Häfen und die Bombardierungen werden eingestellt. 24 Stunden nach Unterzeichnung des Abkommens soll ein Waffenstillstand in Südvietnam eintreten. 3. Parallel zum Truppenabzug der US-Armeen sollen die Kriegsgefangenen freigelassen werden. 4. Das südvietnamesische Volk soll selbst über seine Zukunft durch freie Wahlen entscheiden. Die USA versuchten nicht mehr, ein proamerikanisches Regime zu installieren. Die südvietnamesischen Parteien sollen die nationale Aussöhnung vorantreiben und einen Nationalen Rat der Versöhnung bilden. 5. Die Wiedervereinigung des Landes soll Schritt für Schritt verwirklicht werden. 6. Eine gemischte Militärkommission aus den beiden südvietnamesischen Parteien soll gebildet werden. Außerdem solle eine internationale Kontroll- und Überwachungskommission gebildet werden. 7. Alle unterzeichnenden Parteien verpflichten sich, die Souveränität von Laos und Kambodscha gemäß dem Genfer Indochina-Abkommen von 1954 zu respektieren und die Territorien der Länder nicht länger für militärische Aktionen gegen andere zu benutzen. 8. Die USA werden zur Heilung der Wunden des Krieges in der DRV und ganz Indochina beitragen. 9. Das Abkommen tritt mit der Unterzeichnung in Kraft und ist strikt einzuhalten.

Noch wenige Monate zuvor hatte der US-Präsident Nixon nach gerade gewonnener Wahl versucht, das bereits im Oktober 1972 unterschriftsreife Abkommen nochmals in seinem Sinne zu ändern, beziehungsweise die DRV und die FNL (Front National de Libération = vietnamesische Befreiungsfront) militärisch zu besiegen. Dazu ließ er im Dezember 1972 Hanoi über die Weihnachtstage pausenlos bombardieren (siehe UZ vom 5. Januar). Die DRV und das vietnamesische Volk kapitulierten aber nicht. Die USA mussten an den Verhandlungstisch zurückkehren und ihren Rückzug aus Vietnam akzeptieren. 60 Tage nach Unterzeichnung des Abkommens, am 30. März 1973, verließen die letzten US-Kampftruppen Vietnam. Vietnam hatte einen unvergleichlichen diplomatischen Sieg errungen. Für die Menschen in der Demokratischen Republik Vietnam und den befreiten Gebieten im Süden waren die Kampfhandlungen und der Krieg auch tatsächlich und endlich vorbei.

Bis alle Menschen sich über den Frieden freuen durften, dauerte es aber nochmals über zwei Jahre. Denn nicht alle wollten den Frieden. Insbesondere Nguyen Van Thieu, der US-Vasall in Südvietnam, schäumte und verstärkte den Terror gegen die Befreiungsfront und alle, von denen er meinte, dass sie diese unterstützen. „Zur Verhaftung freigegeben sind Bürger, denen auch nur ein Zeuge Sympathien für die Befreiungsfront nachsagt, des weiteren Flüchtlinge, die versuchen, aus einem Elendslager auf eigene Faust in ihr Heimatdorf zurückzukehren. Solche Aussagen wirkten wie ein Freibrief für mehr als eine Million Soldaten und 120 000 Polizisten zu schrankenlosem Terror gegen das Volk“, schrieb der „Spiegel“ in der Ausgabe vom 29. Januar 1973. Dennoch, die Freude in der ganzen Welt war groß – auch hierzulande. Auch Bundeskanzler Willy Brandt begrüßte in einer Regierungserklärung das Pariser Abkommen: „Die Bedingungen für den Weltfrieden sind dadurch günstiger geworden. Die befreiende Wirkung für Millionen direkt betroffener Menschen empfinden wir mit. Die unglücklichen Menschen in Vietnam haben fast eine Generation lang unter Krieg und Bürgerkrieg schwer leiden müssen.“ Dies entsprach seinerzeit sicherlich auch den Empfindungen von Teilen der Bevölkerung in der BRD. Bei der Bewegung gegen den Vietnamkrieg gab es trotz der Freude große Skepsis, dass die USA wirklich Wort halten würden. „Krieg und Frieden liegen heute in Indochina näher beieinander als je zuvor. Verstärken wir deshalb unsere Solidarität mit Vietnam! Fordern wir die Einstellung der politischen und materiellen Unterstützung des US-Krieges durch die Bundesregierung. Fordern wir den Abbruch aller diplomatischen Beziehungen mit dem Thieu-Regime“, schrieb das Magazin des MSB Spartakus „Rote Blätter“ im Januar 1973 und rief auf, für den Bau eines Kinderkrankenhauses in Hanoi zu spenden. „Spendet 1 % vom BAFöG“ lautete die Parole.

Begonnen hatten die Verhandlungen wenige Tage nach der Tet-Offensive am 13. Mai 1968.

Die Tet Offensive 1968

Am 29. Januar 1968, in der Nacht des vietnamesischen Neujahrsfestes Tet Nguyen Dan, starteten vietnamesische Befreiungskämpfer der FNL an nahezu allen Stellen in Südvietnam Angriffe gegen die amerikanischen Besatzer sowie gegen die Truppen der südvietnamesischen Armee. Am Abend des Neujahresfestes 1968 verlas Ho Chi Minh die Neujahrsansprache über Radio Hanoi und schloss seine Rede mit einem Gedicht:

Dieser Frühling überstrahlt die vergangenen Frühjahre./ Die Neuigkeiten über den Sieg lassen das ganze Land jubeln/ und ermuntern den Süden und den Norden,/ gegen den US Aggressor zu kämpfen./ Vorwärts, der Sieg gehört uns.

Unmittelbar nachdem die letzten Worte dieses Verses verklungen waren, erging ein spezieller Befehl des Oberkommandos der Befreiungsarmee zum Generalangriff gegen die US-Truppen und die Saigoner Armeen. Um 0:30 Uhr begannen die ersten Angriffe gegen die Städte Tan Vanh und Kon Tum, gefolgt von Angriffen gegen die US-Armee in Tay Nguyen im zentralen Hochland. Weitere Hauptziele des Angriffs waren US-Einrichtungen in den Provinzhauptstädten Buon Ma Thuot, Plei Ku und Dac Lac. Entlang der Nationalstraße 1 und ihren Nebenstraßen an der Küste von Mittelvietnam griffen die Befreiungskräfte die Städte Nha Tang, Quy Nhon, Tuy Hoa und Hoi An an. Die Hauptquartiere der südvietnamesischen Armee in Da Nang und die Offizierskasinos in Nha Tran wurden unter Feuer genommen.

Überraschungsangriffe fanden insbesondere auch in Saigon statt. Dort richteten Hunderte von Kommandos der Befreiungsfront ihre Aktionen gegen die Einrichtungen der USA und der Saigoner Regierung. Ziele waren auch die Militärflugplätze und Häfen in Saigon, die seinerzeit die größten US-Basen in Südostasien waren. Auf dem Saigoner Flughafen Tan Son Nhat zerstörten Kämpfer der FNL 20 Flugzeuge.

In der Nacht vom 30. auf den 31. Januar wurden gleichzeitig massive Angriffe gegen Radiostationen, den Präsidentenpalast der Saigoner Regierung sowie das Hauptquartier der Polizei und Armee Nguyen Van Thieus gerichtet. Ziel der Attacken war auch die US-Botschaft. 17 Befreiungskämpfer drangen auf das Gelände der am besten gesicherten US-Einrichtung in Südvietnam vor und hielten dort sechs Stunden lang die Botschaft in ihrer Gewalt, bis sie allerdings der Übermacht der US-Kräfte zum Opfer fielen.

„Fixiert auf die Ereignisse in Khe Sanh trafen die Angriffe der FNL Amerikaner und Südvietnamesen völlig unvorbereitet. Wegen der traditionellen Waffenruhe an den höchsten vietnamesischen Feiertagen befand sich die Hälfte aller südvietnamesischen Soldaten auf Heimaturlaub. Sträfliche Defizite offenbarten auch die militärischen Nachrichtendienste. Einige verfrühte Angriffe wurden nicht ernst genommen. Niemand im amerikanischen Hauptquartier hatte sich vorstellen können, dass die FNL eine so komplizierte Operation würde durchführen können. Wieder einmal hatten die amerikanischen Streitkräfte den Gegner unterschätzt“, schrieb der eher US-freundliche Historiker des Vietnamkriegs Marc Frey in seinem Buch „Geschichte des Vietnamkriegs“. Die von Frey erwähnte Fixierung auf Khe Sanh war von General Vo Nguyen Giap bewusst inszeniert worden. Khe Sanh war Standort einer ziemlich kleinen US-Garnison im bergigen Hochland nahe der entmilitarisierten Zone. Giap hatte im Herbst dort 20 000 Soldaten der Befreiungsfront konzentriert und das US-Militär-Camp mit einem großen Trommelfeuer angegriffen. Die US-Militärführung befürchtete daraufhin, in der Gebirgsregion ein neues Dien Bien Phu zu erleben und schickte riesige US-Kontingente in den Raum Khe Sanh. Die Angst war wohl so groß, dass selbst über den Einsatz von Atomwaffen geredet wurde. „Der Einsatz taktischer Nuklearwaffen sollte in der gegenwärtigen Situation nicht erforderlich sein. Sollte sich die Situation im DMZ-Gebiet jedoch dramatisch ändern, sollten wir bereit sein, Waffen mit größerer Wirksamkeit gegen massierte Streitkräfte einzuführen“, hieß es in einem Memorandum des US-Außenministeriums vom 3. Februar 1968 mit dem Titel „From the Chairman of the Joint Chiefs of Staff (Wheeler) to President Johnson“. [1]

Die Regierung und die Öffentlichkeit in den USA waren geschockt – waren doch die Viet Cong, wie die Befreiungsfront abschätzig genannt wurde, mitten ins „Wohnzimmer“ der USA in Südvietnam gestürmt. Die Fragen, ob dieser Krieg zu gewinnen sei und warum er überhaupt geführt wurde, wurden erstmals lauter.

Die militärischen Einzelerfolge, die während der Tet-Offensive erzielt werden konnten, waren allerdings nur schmerzhafte Nadelstiche gegen die US-Aggressoren und ihre Saigoner Helfer. Diese waren durch die Angriffe im Januar/Februar 1968 noch lange nicht geschlagen. Im Gegenteil, die USA verstärkten die Militäraktionen in Vietnam. Die Verluste bei den Befreiungskräften und vor allem in der Zivilbevölkerung waren riesengroß. Trotz dieser Verluste kämpfte die FNL mit Unterstützung des vietnamesischen Volks weiter intensiv und dauerhaft gegen die Eindringlinge aus den USA. Sie fügte dabei auch den US-Streitkräften schwere Verluste zu.

Der wichtigste Erfolg der Tet-Offensive war das nun immer stärker erwachende weltweite Interesse für den Befreiungskampf Vietnams und die immer größer und lauter werdenden Proteste gegen die Kriegsführung der USA in Südostasien. Die vielen toten US-Soldaten, die Erkenntnis, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen sei und nicht zuletzt der weltweite Protest gegen den Vietnam-Krieg führten dazu, dass die US-Regierung Verhandlungen mit der FNL und der DRV (Demokratische Republik Vietnam = Nordvietnam) aufnahm. Das erste Treffen der Verhandlungsdelegation fand am 13. März 1968 statt. Drei Tage später starben die Bewohner des Dorfs My Lay.

[1] Foreign Relations of the United States, Volume VI, Vietnam, January–August 1968, https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1964–68v06/d51

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"Der Wendepunkt im Vietnam-Krieg", UZ vom 26. Januar 2018



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