Zum 430. Geburtstag von Artemisia Gentileschi

Die Intensität des Augenblicks

Eine der großen Schwächen bürgerlicher Kunstanalyse besteht darin, dass Künstler und ihr Werk historisch isoliert betrachtet werden, wie ein nahezu unerklärlicher Zufall. Als ob Shakespeare oder Beethoven im dritten Jahrhundert vor unserer Zeit die gleichen Werke hätten schaffen können. Solch fehlendes historisches Verständnis suggeriert, dass die Menschen außerhalb der Geschichte leben, dass sie unveränderlich sind. Es beraubt die Kunst ihres revolutionären Potenzials sowie ihrer Kraft, Geschichte als Veränderung zu begreifen. Aus diesem Grund geben wir bei der Vorstellung der herausragenden realistischen Künstlerin des 17. Jahrhunderts, Artemisia Gentileschi, anlässlich ihres 430. Geburtstag in gebotener Kürze wenige historische Hintergrundinformationen.

Die Entstehung des Bürgertums aus Händlern, Kaufleuten und Handwerkern zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert läutete das moderne kapitalistische Zeitalter ein, das in Italien seinen Anfang nahm. Diese neue Klasse, die nun auch nach politischer Macht strebte, um ihre wachsende wirtschaftliche Kraft zu untermauern und zu fördern, fand ihren Ausdruck in der Renaissance, die das Selbstbewusstsein des Bürgertums sowie seine philosophischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Errungenschaften eloquent verdeutlichte.

Die Reformation, die 1517 in Deutschland begann, bedeutete eine religiöse Emanzipation von strengen feudalen Hierarchien und schwächte den Katholizismus in ganz Europa. In der Zeit von 1555 bis 1648 schlug die Gegenreformation zu, die durch politische und militärische Maßnahmen des Katholizismus gekennzeichnet war, die Auswirkungen der Reformation nicht nur in Mitteleuropa zu vereiteln. In Europa entwickelte sich als Ausdruck der Gegenreformation der Barock, der die absolute Macht und den äußeren Glanz der herrschenden Klasse verherrlichte, während die realistischen Kunstwerke einiger mit dem Volk verbundener Meister demokratische Tendenzen widerspiegelten. Als Wegbereiter dieses Realismus beeinflusste Caravaggio viele Künstler, darunter den Maler Orazio Gentileschi, Vater von Artemisia.

261103 - Die Intensität des Augenblicks - Artemisia Gentileschi, Malerei, Realismus - Kultur
„Susanna und die Ältesten” (1610) (Foto: public domain)

Artemisias erstes Meisterwerk war „Susanna und die Ältesten“ (1610) nach einer biblischen Erzählung. Sie malte es siebzehnjährig in Rom. Im Mittelpunkt der Komposition ist die Figur der Susanna. Sie sitzt auf einer Steinbank, verletzlich, fast nackt. Ihre Unschuld wird weiß hervorgehoben und steht in scharfem Kontrast zu den vollständig bekleideten, lüsternen Männern, die sich hinter ihr angeschlichen haben. Susannas Oberkörper ist in Schrecken von ihnen weggedreht, ihr angstvolles Gesicht so weit wie möglich von ihnen abgewandt. Ihre Verzweiflung wird noch verstärkt durch das verzweifelte Bemühen ihrer Hände, die Männer von sich abzuhalten, wohingegen deren Hände sich ihr gefährlich nähern. Während Susanna allein ist, bilden die Männer eine verräterische Einheit, ein Mann legt den Arm um den anderen und flüstert, der zweite Mann hält den Zeigefinger senkrecht an die Lippen, um den Pakt des Schweigens zu besiegeln. Artemisia setzt Caravaggios Hell-Dunkel-Technik ein, um die dramatische Wirkung ihrer Erzählung zu erhöhen. Natürliches Licht scheint auf Susannas Oberkörper, die Körperteile, die für Männer von zentralem Interesse sind, und das Laken. Diese Farbgebung, zusammen mit dem massiven Gewicht, das von den unheimlichen Tätern ausgeht, intensiviert die emotionale Atmosphäre und unterstreicht Susannas Alleinsein und ihre Verletzbarkeit.

Ein weiteres beliebtes biblisches Thema, dem sich Artemisia zuwandte, war das der Judith, die Holofernes köpft. Artemisia gestaltete das Motiv zweimal. Das zweite Gemälde „Judith enthauptet Holofernes“ (1620) hatte gegenüber dem ersten von 1612/13 an Realismus gewonnen. Artemisia weist beiden Frauen eine aktive Rolle zu: Die Magd drückt den mächtigen Mann nieder, während Judith die eigentliche Enthauptung ausführt. Artemisia stellt in der Magd eine junge Frau dar, die mit ihrem ganzen Körpergewicht und ihrer ganzen Kraft Holofernes festhalten muss. Von Judith geht unglaubliche Kraft aus. Die Kraft, die Energie und die schiere Stärke dieser beiden Frauen in Aktion sind in der Kunstgeschichte nahezu beispiellos. Sie sind gekommen, um eine Tat auszuführen. Die Betrachter werden Zeuge davon auf dem Höhepunkt der Handlung. Die voll ausgestreckten Arme der Frauen drücken mit großer Kraft auf den General. Getreu der Bibel ist Judith in ihr schönstes Gewand gekleidet, bis hin zum Armreif, der nach Auffassung einiger Experten Artemis, die Göttin der Jagd, darstellt. Die Frauen sind mit Blut besprüht, Holofernes’ Blut spritzt aus seinem Hals auf das Bett und die Frauen. Ihre Gesichter fangen die Intensität des Augenblicks ein. Die Komposition mit dem Schwert in der Mitte vermittelt ein Gefühl der Unmittelbarkeit und unterstreicht Judiths Entschlossenheit.

Betrachten wir abschließend Artemisias „Selbstportrait als Allegorie der Malerei“ (1638 – 1639), das sie in London malte, als sie Mitte vierzig war und bei ihrem Vater wohnte.

Self portrait as the Allegory of Painting La Pittura Artemisia Gentileschi - Die Intensität des Augenblicks - Artemisia Gentileschi, Malerei, Realismus - Kultur
„Das Selbstporträt als Allegorie der Malerei“ (1638 – 1639) (Foto: public domain)

Dieses Bild ist sowohl Allegorie als auch Selbstporträt. Ungewöhnlich für ein Selbstporträt, blickt die Künstlerin den Betrachter nicht an. Sie ist ganz auf ihre schöpferische Tätigkeit konzentriert, die aus einer höchst ungewöhnlichen Perspektive gezeigt wird – eine Perspektive, die zwei schräg gestellte Spiegel erforderte, um diese Haltung einzufangen. Die Malerin ist seitlich von der Leinwand positioniert, wobei eine Diagonale von links oben nach rechts unten entlang ihres malenden rechten Arms und ihrer Brust verläuft. Durch diese Positionierung außerhalb des Mittelpunkts entsteht eine einzigartig dynamische und unkonventionelle Komposition. Der Ärmel des rechten Arms ist hochgekrempelt, sie trägt eine braune Schürze über ihrem Kleid – sie arbeitet. In der rechten Hand hält sie den Pinsel, der gleich die Leinwand berühren wird. In der linken Hand hält die Künstlerin die rechteckige Palette, die auf einer einfachen Unterlage ruht. Entsprechend der intensiven Konzentration auf ihre Arbeit ist das Gemälde frei von jeglichen Details. Artemisia ist sowohl das Subjekt als auch das Objekt des Bildes. Durch die Schwerkraft hängt ein Anhänger von dem geneigten Körper weg und zieht so die Aufmerksamkeit auf sich. Der Anhänger zeigt eine Maske, die besagt, dass die Kunst nur das Bild von etwas darstellt und nicht das eigentliche Ding ist. Der gesamte Fokus liegt auf der Person Artemisias. Im Hintergrund ist eine vertikale Linie zu sehen, die zwei Brauntöne voneinander trennt. Der hellere Farbton deutet wahrscheinlich die Grundierung der Leinwand an – vor dem bevorstehenden Auftragen weiterer Farben durch die Künstlerin. Wir erleben den Moment der Schöpfung. Sowohl die Leinwand als auch die Wand sind kahl: das Gemälde nicht fertig, sondern in der Entstehung. Artemisia als Allegorie der Malerei bei der Arbeit.

Als eine der großen Schülerinnen Caravaggios erhielt Artemisia, trotz Bekanntheit, keine öffentlichen Aufträge, als sie in Rom, Florenz oder Venedig lebte, vermutlich da ihr Realismus im Widerspruch zu den Idealen des Barock stand. Neapel, wo sie die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens verbrachte, war dafür offener. Artemisia starb circa 1656, möglicherweise während der Pest. Jahrhundertelang fast vergessen, wurde ihre realistische Kunst im zwanzigsten Jahrhundert wiederentdeckt und gefeiert. Wie keine andere Künstlerin ihrer Zeit stellt sie Frauen als Handelnde dar, ihre Kraft, ihren Mut und ihre Kreativität, und bestärkt die Betrachter in der Überzeugung, dass Veränderung möglich ist.

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"Die Intensität des Augenblicks", UZ vom 30. Juni 2023



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