Wieder so ein „Familiendrama“: In „Lou“ jagen zwei Frauen einen Vater, der seine Tochter entführt

Die Schutzweste der anderen

Der erste Tropfen fällt auf die Schaufel. Wer weiß, was damit von Lou schon alles aus- und vor allem eingebuddelt wurde. Leichen im Keller hat sie, und die hören auch nicht auf zu schreien. Denn während der in der Erzählzeit des Films regierende Präsident Ronald Reagan in die Fernsehkameras hineinlügt, die USA hätten zum Putsch gegen den iranischen Premierminister Mohammed Mossadegh 1953 nichts beigetragen, weiß Lou, dass es die Operation Ajax gegeben hat. Sie war ja schließlich dabei, sie muss es nicht sagen, Narben zeugen davon. Überhaupt ist Lou, gespielt von Allison Janney, eher der performative Typ. Warum reden, wenn die Augen alles verraten?

Wie sie zu der Nachbarin (Jurnee Smollett) steht, die sie auf der kleinen Insel mitten im Wald direkt nebenan zur Miete wohnen lässt, verrät sie ihr eben nicht mit Worten. Stattdessen soll sie die Miete am nächsten Tag auf ihren Küchentisch legen – irgendwer muss Lou ja finden, die vorhat, sich das Hirn wegzuballern. Sorgend ist sie dabei aber schon: Plastikfolien sollen den Kopfinhalt abfangen, ehe er die Bude ruiniert, und auf dem Küchentisch liegt Lous Erspartes. Ihre Abbezahlung der Reparationen, denn sie hat die Welt „ein Stück gefährlicher“ hinterlassen.

Vorbei ist es aber noch lange nicht, als zugleich Nachbarstochter Vee von ihrem totgeglaubten Vater (Logan Marshall-Green) entführt wird. Ein Sadist, der als CIA-Agent in Nicaragua gar nicht erst dazu kam, die Leichen auch wegzuräumen, die er stapelte, und von dem wir wissen, dass er zwanghaft böse ist, weil er selbst Schmetterlinge mit kaputtem Flügel nicht nicht zerquetschen kann.

Wie soll der also auf ein Kind aufpassen? Die Mutter mit Lou also hinterher – der Tropfen eingangs ist zum andauernden Sturzregen geworden, die Welt eine Matsche aus Grün und Blut, ein Naturhöllenspektaktel. Den Fänger jagen – der Kniff von „Lou“ erschöpft sich nicht nur daran, dass hier weder Harrison Ford („Frantic“, 1988), noch Mel Gibson („Payback“, 1999), Bruce Willis („Hostage“, 2005) oder Liam Neeson („96 Hours“, 2009) die Stiefel schnürt und das Schießeisen hervorkramt. Dass hier Frauen zur Rettung eilen und der beschützerinstinktive Mann zu Hause bleibt, reizt zur Frage nach anderen Instinkten des Menschen und welchen, die der Mensch, wenn er denn weiblich ist, einem auf ausgeblichenen Papier festgehaltenen Gesellschaftsvertrag nach haben soll. Wenn Lou spricht, dann spricht sie Sätze aus, die sozial- wie naturwissenschaftlicher nicht sein können: „Nicht jede ist zur Mutter gemacht.“

„Lou“ kommt nicht ohne Mutterkomplex aus, nicht ohne kastrierend-einstürzende Phallussymbole und auch nicht ohne Soundtrack, dafür sind wir schließlich in den 1980ern. Bon Jovi („Wanted dead or alive“) und Toto (na ja, was wohl?) liefern das musikalische Pflichtprogramm ab – prominente Serien wie „Stranger Things“ haben unnötigerweise an das Bedürfnis erinnert, dass man die Popklassiker jener Dekade so braucht wie Sauerstoff in der Luft. Aber irgendwann versagt der Walkman – ein Effekt aus dem Leben – und wir sind allein mit dem Film, „Lou“ muss mit Plot punkten und tut sich schwer damit.

Denn so wie die Abholung von Entführer und Tochter plumperweise einfach nicht klappt und Ersterer nach und nach zeigt, wie plemplem er ist, brechen zwar Figuren und auch die Beziehung der beiden Frauen so weit auf, dass das Gift aus ihnen heraussickert. Die Spannung geht aber spätestens dann gelangweilt gähnend nach Hause, wenn Lou sich die kugelsichere Weste überzieht, die sie zwar selbst anlegt, für andere aber trägt. Stärke und Schwäche zugleich: Das Publikumsinteresse schmiert genau da ab, wo die Konzentration auf Charakterentwicklungen gelegt werden sollte. Wenn der Film „Lou“ zeigt, wie sogenannte Familiendramen ablaufen und sich die Mutter, ob sie will oder nicht, dazwischenwirft.

Faule Handlungsentwürfe: So sehr man mitmachen will, „Lou“ trägt nicht auf ganzer Strecke. Während Lous Blick einen durchsticht, schaut man gen Ende noch mit halbem Auge zu. Stattdessen wünscht man sich, jemand fände frische Batterien für den Walkman.

Lou
Regie: Anna Foerster
Unter anderem mit: Allison Janney, Jurnee Smollett, Greystone Holt
Netflix 2022

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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Die Schutzweste der anderen", UZ vom 30. September 2022



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