Scheitern als Appell

Die untote DDR

Von Hartmut König

Hartmut König war von 1966 bis 1973 Mitglied des „Oktoberklubs“, von 1976 bis 1988 Sekretär der Freien Deutschen Jugend. Seit 1981 war er Kandidat des Zentralkomitees, 1986 bis 1989 dessen Vollmitglied. Im Januar 1989 wurde er zum Stellvertretenden Minister für Kultur der DDR ernannt.

Stirbt ein Mensch, finden Ärzte heute präzise Ursachen. Stirbt ein Staat, entbrennen politische Kämpfe um die Ausstellung des Totenscheins. Wie beim Staatsuntergang DDR. Die Oberleitung am Rhein diktierte die Diagnose und übergab sie mit dem voreiligen Vermerk „Erledigt“ ihrem Schnellhefter der Geschichte. Der Befund lautete auf systemisch bedingten Exitus. Das Staatswesen und die Wirtschaft systemisch ruiniert, die Menschen im uniformierten Alltag systemisch deformiert, dabei das Gesellschaftsmodell des Westens als einziges Rettungselixier ante portas gehalten. Folgt der Kurzschluss: Sozialismus war und wäre immer eine Missgeburt mit absehbarer Todesfolge. Nie kann er demokratisch werden. Er ist ein Irrtum der Geschichte, denn er hat die Verzwergung der Menschen zur Voraussetzung. Schade, ihr Ossis, dass ihr da eure Zeit verplempert habt! (…)

Die Besinnung auf ein realistisches Bild von der DDR, auf Gewinn und Fehl in diesem ostdeutschen Wagnis muss eine Frage linker Souveränität sein und bleiben. Vom Wiederhabenwollen in alter Fasson ist nicht die Rede. Von einer künftigen Republik aber, die solchem Namen jede Ehre macht, sollten Linke träumen. Gliederzittern vor den drei Buchstaben und der 70 davor wäre so geschichtsvergessen wie unpopulär. Denn die DDR ist auf bemerkenswert anregende, spannende Weise untot. Auf der politischen Landkarte gelöscht, lebt sie doch in vielen materiellen Zeugnissen und erinnerten Lebensmomenten der Leute weiter. Gesellschaftliche Errungenschaften und persönliches Glück darin reiben sich schmerzlich an Fehlern und Defiziten, die samt externen Ursachen die DDR zum Einsturz brachten. Gescheites Nachdenken darüber muss Teil unserer Erinnerungskultur sein. Um unserer selbst willen und für die Klugheit unserer Nachfolger.

Das Inferno von Dresden. Das zerstörte Magdeburg. Die Bombenlandschaft Berlin … Meine Mutter war Trümmerfrau und fragte sich oft, wie man aus solchen Ruinen auferstehen konnte. Anton Ackermann, der mit der 1. Ukrainischen Front in Sachsen eintraf, schilderte ein unvorstellbares Chaos: „Zunächst musste das nackte, primitivste Weiterleben der Menschen gesichert werden. Es hieß, den Eisenbahnverkehr in Gang zu bringen, die Überlandstraßen, die von den Trümmern der faschistischen Kriegsmaschinerie übersät waren, zu säubern, die wichtigsten Brücken wieder benutzbar zu machen, damit die Tausende von verwundeten, kranken, halbverhungerten Menschen in Unterkünfte gebracht und wieder Kohlen für die Kraftwerke, Getreide für die Mühlen befördert werden konnten.“ Also Anpacken im Wechselbad von Hoffnung und Verzweiflung. Mangel überall. Dabei die höchsten Reparationslasten. Im Osten aber auch die Verfolgung der Nazis und Kriegsverbrecher am konsequentesten: Angehörige der SS, Gestapo-Leute und andere braune Straftäter abgeurteilt, Nazi-Kader aus Regierungsbehörden, Polizei, Volksbildung und Chefetagen der Wirtschaft entfernt. Anfang 1947 waren das 300 000 Entlassene.

Die Bodenreform 1945 enteignete die Junker und Großgrundbesitzer entschädigungslos und vergab zwei Millionen Hektar Boden als Besitz an heimische Landarbeiter und Umsiedler. Mit der Industriereform im Folgejahr wurden Betriebe der Rüstungs- und Kriegsgewinnler übernommen. In Sachsen stimmten über drei Viertel der Wähler für solche Enteignungen. 1948 lag die Bruttoproduktion der SBZ bereits zu fast 40 Prozent bei volkseigenen Betrieben. Der Übergang zu einer 2-Jahres-Wirtschaftsplanung erwies sich für die SED als harte administrative Nuss und schwierig im Umgang mit Blockparteien. All das gehörte zum Erbe, als am 7. Oktober 1949 die DDR gegründet wurde. Die Sowjetunion hatte es mit der Schaffung eines neutralen, friedlichen, einheitlichen Deutschlands, das wohl nicht sozialistisch regiert sein würde, ernst gemeint. Aber als mit der Währungsreform in den Westzonen und der Gründung der BRD separatistische Fakten geschaffen wurden, war die Entstehung der DDR die Folge.

Keiner plagt sich gerne, der nicht ein Ziel vor den Augen hat. Nach der antifaschistisch-demokratischen Neuordnung hieß dieses Ziel für den entschiedensten Teil der Aufbaugeneration im Osten: Sozialismus. Die zukunftsbesessene Lebensweise dieser Altvorderen hatte trotz mancher dogmatischer Anhaftungen etwas Ansteckendes für mich. Ich war in der Familie unpolitisch erzogen worden, es hätte mit mir auch anders kommen können. Aber die DDR wurde mir Heimat. Und Heimat war für mich ideelles Andocken und Mittun dort, wo auf deutschem Boden Sozialismus geübt wurde. Der kleine protestantische Kirchgänger war Konvertit geworden, und solche sparen bekanntlich am wenigsten mit Begeisterung für das Neue. Sei‘s drum. Ich bekenne meine Liebe zur damals errungenen Heimat freimütig und begründe sie vor allem mit deren gesellschaftlichen Vorzügen: Antifaschismus als weit überwiegende Gesinnung und Staatsdoktrin, Brechung des Bildungsprivilegs, Vollbeschäftigung, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Nähe der Menschen zueinander, die Empathie förderte und Ellenbogen-Mentalitäten eindämmte, angemessene Daseinsvorsorge für jeden, Teilhabe an einem reichen kulturellen Leben, Beharrung auf Frieden und gerechte internationale Solidarität. Das Massaker von My Lai, die Lynchattacken Pinochets, die Blutspur der Apartheid – wo westliche Staatsräson verräterisch lange schwieg, da stand die DDR, erkennbar für alle Welt, immer an der Seite der Opfer. Den Stolz darauf lege ich niemals ab.

Um den Lebensjahren der DDR in all ihren ertragreichen wie fehlerhaften Entwicklungen nachzuspüren, ist hier nicht ausreichend Platz. Aber erwähnt soll sein, dass sich durch diese Zeit zwei dauerhafte Gefährdungen zogen. Feindlicher Druck, der die Liquidierung des Staates zum Ziel hatte. Der wurde erkannt und bekämpft. Aber eben auch inneres Versagen als ernste Gefahr, wo sich im Alltag volksferne Administration etablierte und abweichende Auffassungen zur Gesellschaftsentwicklung keine Chance auf öffentlichen Disput hatten. Das stand jener lebendigen sozialistischen Demokratie im Wege, die in der DDR-Gesellschaft immer drängender eingefordert wurde. Wer sah das? Wer stand auf der Bremse? Wer schwieg dazu? Wer rief nach Veränderung? Ein weites Feld für linke Geschichtsaufarbeitung. Zugleich gute Fragen vorm Spiegel!

Und dann hat es geknallt. Keine Schüsse – zum Glück! Das Land, das wir Heimat nannten, wurde einverleibt und der potentielle Kraftzuwachs des zusammengelegten Deutschlands von westlichen Alt-Siegermächten nicht ohne Sorge erwogen. Die damalige Führung der östlichen Befreier hatte eigene Existenznöte und meinte, Ballast abgeworfen zu haben. Ihr „Do swidanija GDR!“ verkaufte sie billig und blind. Natürlich war die DDR ein sowjetisches Ziehkind, eingebunden in die Bipolarität der Welt und den Kalten Krieg. Mit Blessuren kam sie in einer Staatlichkeit an, die von Adenauers rigidem Scheidungsbegehren erzwungen war und nach langer westdeutscher Hallstein-Erpressung weltweit anerkannt wurde. Die DDR war weder geistig noch materiell arm, obwohl das westliche Deutschland dem Osten bis 1990 durch Reparationsverweigerung und Handelsboykotte, Abwerbung ostdeutscher Arbeitskräfte oder Warenimporte zu Dumpingpreisen mehr als zwei Billionen D-Mark an Wirtschaftskraft entzog (K. Blessing). Immerhin saß die DDR bei Tarifverhandlungen im Westen als soziales Korrektiv stets mit am Tisch.

Konsum-„Segen“ des Westens plus soziale Absicherung des Ostens war die fehlgeträumte Hoffnung vieler DDR-Bürger, als am 3. Oktober 1990 Becher-Hymne, Hammer, Zirkel und Ährenkranz staatlich aussortiert waren. Wem – so wie mir – Heimat verloren ging, der stand nun vielleicht starr im Niemandsland und trauerte. Aber aus solcher Starre, die Trauer bequem machen kann, musste man sich lösen. Das Leben ging schließlich weiter. Mit brachialen Umstürzen der Lebensweise. Die langersehnten Kauf- und Reiseofferten waren schnell überwuchert von ungewohnten Ängsten um Arbeit und sozialen Status. Untadelige Biografien strandeten in Nichtachtung. Wohl dem, der da noch Selbstachtung übrig hatte und darauf beharrte, dass vom Sozialismus in der DDR mehr blieb als ein grüner Pfeil. Sein Scheitern war kein finales Geschichtsurteil, sondern ein Appell, zu lernen. Ein würdiges Leben jenseits der Fesseln des Kapitalismus ist möglich. Für eine solche Zukunft, selbst wenn man sie nicht mehr erlebt, muss man sich rühren!

Der Beitrag „Die untote DDR“ ist in ungekürzter Fassung in den

„Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Partei ‚Die Linke‘“,

Heft 10/2019, erschienen.

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"Die untote DDR", UZ vom 25. Oktober 2019



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