Zu Christoph Heins neuem eindrucksvollen Roman „Guldenberg“

Die Wiederkehr der Fremden

Guldenberg ist in Christoph Heins Schaffen Programm: Die kleine Stadt ist ein Universum, mit „einem geschichtslosen Alltag“ (7), aber ein Brennspiegel der Verhältnisse einst und jetzt. Es sind deutsche Verhältnisse, denn Guldenberg ist das Muster oder einfach: Heins neuer Roman ist ebenso deutsch wie aktuell wie „geschichtslos“.

An vergangene Ereignisse in Guldenberg an der Mulde gibt es Erinnerungen, vorwiegend an störende wie Brände und Kindesmissbrauch, begangen von Zugezogenen, die die Stadt wieder verließen. Was die einen erinnern – unter ihnen die 98-jährige Gertrude Fischlinger aus „Horns Ende“ –, erleben andere als Gegenwart. Fremde, so erfährt der Leser zu Beginn, bereiten Unbehagen; sie waren und sind eine Gefahr für die scheinbar ruhige Friedfertigkeit in der Stadt. Dabei werden die Konflikte umso größer, je fremder die Fremden sind. Brachten nach 1945 Umsiedler, dann „eine Großfamilie Zigeuner“ Unruhe in die Stadt, so sind es jetzt die Migranten.

Frühere Romane Heins sind im Hintergrund des neuen Romans präsent, vor allem „Horns Ende“ und „Landnahme“. Aber die Erinnerung an Horns Tod ist verblasst; da viele Menschen damals versagt haben, wurde die Schuld vergessen. Nur Kruschkatz, der Kontrahent Horns und der am längsten wirkende Bürgermeister, den Guldenberg je hatte, ist noch bekannt; es ist der einzige Name, der im Eröffnungskapitel von „Guldenberg“ genannt wird. Es ist auch das einzige Kapitel, in dem die Sprache einen beschwörenden Charakter hat, Ruhe und Sicherheit vermitteln will, aber sich geschlagen gibt, als Fremdes droht und am Ende des Kapitels im mehrfachen „wieder“ warnend und erinnernd zurückverweist. Mit Kruschkatz‘ Namen verbinden sich die „Zigeuner“, die, als Horn sich 1957 das Leben nahm, zum letzten Mal in der Stadt waren. Nur „die ganz alten Leute entsannen sich“ (9): Sie kamen vor „sechzig, siebzig Jahren in jedem Frühsommer“ in die Stadt, nicht 1989, wie der Rezensent Ulf Heise, den der Roman nicht überzeugte, herausgelesen haben will („Freie Presse“ vom 8. 5. und MDR Kultur vom 10. 5 2021). Es ist einer der an Fehlern überreichen Rezension.

Erinnert werden in „Guldenberg“ Brandstiftungen aus dem Roman „Landnahme“. Die Brandstiftungen in Betrieben von damals sind Insolvenzen und betrügerische Machenschaften von heute. Die Hinweise lassen „Guldenberg“ zur Fortsetzung und zur variierten Wiederholung des Romans „Horns Ende“ (1985) werden, aber auch zur Weiterführung von „Landnahme“ (2004). Die Menschen sind gieriger, unmenschlicher, aber auch feiger als damals geworden. „Guldenberg“ ist eine Variation der Vorgänger mit veränderten, zumeist verjüngten Personen, aber trotz äußerlicher Veränderungen in der Stadt erscheint das Verhalten der Einwohner ähnlich: „… man lebte hier anders als anderswo in der Welt.“ (7) und war doch der Welt so ähnlich.

Unbegleitete jugendliche Migranten – Syrer und Afghanen – sind 2017 im Alten Seglerheim in Guldenberg untergebracht. Der Ort hat sich seit der DDR verändert: Er sieht wohlhabender aus als früher, aber tatsächlich ist er als Gemeinwesen verarmt. Die Polizeistation ist geschlossen und der Streifenwagen kommt nur einmal wöchentlich in den Ort. Die Verarmung betrifft auch die menschlichen Beziehungen und die waren schon früher nicht intensiv. Vieles aber ist wie immer: „Die Gleichgültigkeit der Bewohner füreinander war geblieben, die kühle Freundlichkeit untereinander, doch eine Unruhe, eine hektische, nervöse Anspannung hatte sich im Ort verbreitet. Das gemächliche Selbstverständnis der kleinen Stadt, das von einem geschichtslosen Alltag und dem gewöhnlichen Rhythmus eines erschöpften Schlendrians geprägt war, wich einer auffälligen Verunsicherung, spürbar in einem überspannten gegenseitigen Misstrauen.“ (7)

Bevorzugt geht es in Heins Roman um junge Migranten, unbegleitete Kinder und Jugendliche, die nach Guldenberg ins Alte Seglerheim eingewiesen werden. Zu den dort befindlichen vier Syrern und vier Afghanen kommen zwei Syrer hinzu, zehn Bewohner, später ist von zwölf die Rede. Deren Ankunft lässt die in Guldenberg vorhandene Unruhe über wiederkehrende „Zigeuner“ in Hass und Gewalt umschlagen, die bis zum Brandanschlag und zum Messerangriff eines Migranten auf einen anderen Migranten und eine Betreuerin reichen. Auch eine Vergewaltigung wird angezeigt, für die die Migranten verdächtigt werden, mit der sie aber nichts zu tun haben und die schließlich auch keine ist, sondern eine unerwünschte Schwangerschaft begründen soll. Es werden Massenhysterie, dann Massenproteste ausgelöst. Hein entwirft dafür ein eindrucksvolles Panorama: Einmal werden Kommentare durch die Skatrunde der Unternehmer in Schiffers Kneipe in ausführlicher, aber sprachlich karger Dialogform gegeben, zum anderen werden die Vorgänge von Polizei und Stadtverwaltung aufgearbeitet. Im zentralen 16. Kapitel – das erste und letzte Kapitel bilden einen Rahmen – werden beide Informationsquellen zusammengeführt, ohne dass eine personalisiert in den Vordergrund träte. Es findet sich auf dieser Informationsgrundlage eine Masse, die das Rathaus stürmen will, „wie es in einer Demokratie zuzugehen hat“ (141) – fast namenlos, nur die Wohnungsgenossenschaft mit ihrem Chef „Fritz“ ist erkennbar (124). Die Dialoge gründen sich teils auf die auch sonst immer präsenten Verdächtigungen: „Mehr sage ich nicht.“ Dass das schnell zum Aufruhr werden kann, wissen wir aus der Trump-Ära. Guldenberg ist auch Abbild der Welt.

Aber Weltanschauungen stehen sich nicht gegenüber – weder Migranten noch Einwohner vertreten nachweisbar tragfähige gesellschaftliche Positionen, der größte Mangel in Guldenberg –, sondern eine vielschichtige Unzufriedenheit wird durch die Umstände begründet: Die Migranten wollen Sicherheit, haben aber durchaus auch andere unerfüllbare Wünsche; die Guldenberger wollen Ruhe, Wohlstand, immer mehr Vermögen und nichts Fremdes im Ort. Das verbindet sich mit nationalistischen Angriffen auf Flüchtlinge, eine noch schlimmere Vergangenheit wird wieder lebendig. Um diesen Vorgang ordnet der Schriftsteller viele moderne Themen an, die täglich die Menschen, die Politik und die Medien beschäftigen, von Wirtschaftsfragen bis zur Vogelgrippe, von internationalem Betrug und Bestechlichkeit über die Anwerbung zu Terrororganisationen (187 ff.) bis zur Massentierhaltung des Stadtrates Siegfried Spielhagen, die er als Wendegewinner „preisgünstig“ einrichten konnte, die Tätigkeit als Stadtrat bringt Informationen „frühzeitig über die Vergabe sämtlicher städtischer Aufträge“ (242 f.). Korruption und Schiebungen sind an der Tagesordnung.

Dabei scheint Guldenberg auf den ersten Blick nach 1990 nicht zu den Verlierern zu gehören; doch erweist sich mit dem zunehmenden Geschehen im Roman, dass vieles Schein ist und die Infrastruktur wie die soziale Sicherheiten zum Nachteil der Menschen gelitten haben. Guldenberg wird von einem „gewöhnlichen Rhythmus eines erschöpften Schlendrians“ (7) geprägt. Das bedeutet auch, keine Maßstäbe zu haben, und so findet sich die Situation der beiden früheren Romane verschärft wieder. Unter diesen Voraussetzungen herrschen Spannungen: Der Pfarrer wird von dem Vorsitzenden des Pfarrgemeinderates Walter Lichtenberger attackiert, „ein stolzer Guldenberger“, den der Pfarrer als „Arschloch“ (55) bezeichnet; der Bürgermeister findet keine Unterstützung bei der Polizei; gescheiterte Unternehmer provozieren Polizei und Verwaltung und so weiter.

Wenn man die Romane des Schriftstellers kennt, so kennt man auch diese Problematik des neuen Romans. Es wiederholt sich vieles wie einst in „Horns Ende“ unter scheinbar veränderten Verhältnissen: Die „Zigeuner“ aus „Horns Ende“ sind die Migranten von heute geworden, ungeliebte Fremde, die die Stadt wieder verlassen wie einst die „Zigeuner“. Nur die Guldenberger sind sich selbst genug: „Ruhig, vertraut und gemütlich.“ Sie spüren nicht, wie es keine Sicherheit mehr gibt, sich die Insolvenzen mehren und die Aufrechten und Menschlichen unter ihnen in der Stadt nicht mehr erwünscht sind. 1957 nahm sich in Guldenberg der Historiker Horn das Leben, jetzt droht eine Stadt zu sterben.


Christoph Hein, Guldenberg
Roman, Berlin, Suhrkamp Verlag 2021
285 S., 23,- Euro

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Die Wiederkehr der Fremden", UZ vom 4. Juni 2021



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