Wie die „Bild“-Zeitung verleumdet und die Wahrheit verdreht

Ein Organ der Gegenaufklärung

Von sogenannten Hygiene-Demos über soziale Netzwerke bis in den Bundestag: Es ist auffällig und gefährlich, dass in der gegenwärtigen Situation sehr viele falsche oder wissenschaftlich nicht belegbare Behauptungen kursieren. Auch Wissenschaftsfeindlichkeit wird geschürt. Nicht nur verbale Angriffe auf Wissenschaftler nehmen zu. „An die Spitze“ stellte sich am Montag der vorigen Woche die „Bild“-Zeitung mit einem üblen Artikel über den führenden Virologen der Charité, Christian Drosten, und sein Team.

Dabei muss man daran erinnern, dass eine solche Erscheinung nicht neu ist und sich nicht nur in Krisenzeiten verbreitet. Im Bundestag waren es die Abgeordneten der AfD, die in den letzten Jahren Stimmung gegen wissenschaftliche Forschung machten: so im Zusammenhang mit der Leugnung eines menschengemachten Klimawandels und unter Berufung auf angebliche Experten. Oder mit Angriffen auf die Geschlechterforschung. Jetzt versuchen sie mit „berechtigten Zweifeln“ an Aussagen von Virologinnen und Virologen beziehungsweise Epidemiologinnen und Epidemiologen, „Politik“ zu machen und Stimmen bei Wählerinnen und Wählern zurückzugewinnen, obgleich man zu Beginn des Lockdowns die Mehrheit der Maßnahmen noch mitgetragen hatte. Doch auch einige Politiker in der CDU und der FDP tragen mit Aussagen wie, die Virologinnen und Virologen würden ihre Meinung eh alle drei Tage ändern, oder, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wären sich ja gar nicht einig, zu Zweifeln und Stimmungen bei. Dabei wird, weil andere Interessen Vorrang haben, bewusst nicht nur völlig außer Acht gelassen, wie Wissenschaft bei der Erforschung neuer Erscheinungen vorgeht, sondern in dieser Situation auch, dass die Wissenschaftler bei Covid-19 mit völlig neuen Krankheitsbildern konfrontiert wurden, anfangs nur sehr wenige Daten vorlagen und so weiter, aber die Pandemie sich mit großer Geschwindigkeit ausbreitete. Nötig war und ist in dieser Situation für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – und in unser aller Interesse – der schnelle Austausch von Erkenntnissen, ihre kritische Diskussion und Bewertung.

Und hier mischt sich die „Bild“-Zeitung ein. Das Team von Professor Drosten hatte Ende April den Entwurf einer Studie, eine „Vorstudie“, auf einen speziellen Wissenschaftsserver, einen „Preprint-Server“ im Internet, gestellt. Solche Server dienen dem üblichen wissenschaftsinternen Austausch und der kritischen Diskussion von Ergebnissen, bevor wissenschaftliche Arbeiten in Fachzeitschriften veröffentlicht werden. In der Vorstudie ging es um die Untersuchungen zur Viruslast von Kindern. Am Schluss wurde formuliert, Kinder könnten – bezogen auf Covid-19 – genauso ansteckend wie Erwachsene sein. „Bild“ machte daraus „können“, nutzte zudem die interne Kritik anderer Wissenschaftler an den verwendeten statistischen Methoden, um die Arbeit des Charité-Teams und vor allem dessen Leiter zu verleumden. Am 25. Mai titelte man reißerisch „Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch – Wie lange weiß der Star-Virologe schon davon?“ Die Kritik anderer Wissenschaftler wurde verkürzt und verfälscht zitiert. Zudem wurde suggeriert, Drosten wäre an Schul- und Kita-Schließungen, die bereits Mitte März erfolgt waren, schuld. Zuvor hatte der Redakteur in einer E-Mail dem Virologen nur eine Stunde Reaktionszeit auf Fragen zugestanden. Der hatte wahrlich Besseres zu tun. Nicht nur Drosten wehrte sich, sondern auch die „zitierten“ Wissenschaftler, die sofort öffentlich gegen „Bild“ Stellung bezogen.

Gewiss: „Bild“ hatte mit der Wahrheit nie viel „am Hut“. Es sei denn, es nutzte den eigenen Interessen – der Print-Auflage, den „Klicks“ im Internet, dem Springer-Konzern und denen, die dahinter stehen. „Bild“ ist aber nicht erst heute, unter Chefredakteur Julian Reichelt, ein Organ der Gegenaufklärung. Die „taz“ nannte „Bild“ bereits vor längerer Zeit „Stichwortgeber für die rechte Blase“. Der diffamierende Artikel über die Studie des Charité-Teams und seinen Leiter wird der willkommen sein.

Über die Autorin

Nina Hager (Jahrgang 1950), Prof. Dr., ist Wissenschaftsphilosophin und Journalistin

Hager studierte von 1969 bis 1973 Physik an der Humboldt-Universität in Berlin. Nach dem Abschluss als Diplom-Physikerin wechselte sie in das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR und arbeite bis zur Schließung des Institutes Ende 1991 im Bereich philosophische Fragen der Wissenschaftsentwicklung. Sie promovierte 1976 und verteidigte ihre Habilitationsschrift im Jahr 1987. 1989 wurde sie zur Professorin ernannt. Von 1996 bis 2006 arbeitete sie in der Erwachsenenbildung, von 2006 bis 2016 im Parteivorstand der DKP sowie für die UZ, deren Chefredakteurin Hager von 2012 bis 2016 war.

Nina Hager trat 1968 in die SED, 1992 in die DKP ein, war seit 1996 Mitglied des Parteivorstandes und von 2000 bis 2015 stellvertretende Vorsitzende der DKP.

Hager ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter, Mitglied der Marx-Engels-Stiftung und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

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"Ein Organ der Gegenaufklärung", UZ vom 5. Juni 2020



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