Bundesregierung planlos, Impfstoff auf gut Glück bestellt

Mit Schneeketten in den Herbst

Die Tage der momentan noch wirksamen Corona-Schutzregelungen sind gezählt. Am 23. September laufen sie aus. Mittels einer Übergangsregelung soll dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) noch bis zum 30. September ein kurzes Weiterleben eingehaucht werden, bevor dann pünktlich zum 1. Oktober die von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gewohnt wortgewaltig angekündigten „harten, aber klaren Regeln“ zur Abwehr der Herbst- und Winterwellen in Vollzug gesetzt werden. Kurz bevor er sich am 4. August coronabedingt (trotz doppeltem Booster) in die häusliche Quarantäne abmeldete, erläuterte Lauterbach gegenüber der Presse Inhalt und Reichweite der geplanten Novellierung des IfSG. Glaubt man dem Gesundheitsminister, hat er in Abstimmung mit dem Justizressort unter Minister Marco Buschmann (FDP) im dritten Corona-Jahr für die Zukunft den Stein der Weisen gefunden, nämlich „Regeln, die man sich nicht nur gut merken kann, sondern die auch wirklich schützen“.

Von 2G, 3G, Lockdown, Schulschließungen ist nicht mehr die Rede. Damit sich die neue Corona-Maßnahmenklaviatur tatsächlich jedem gut einprägt, hat sich die Grafikabteilung im Hause Lauterbach etwas einfallen lassen. Der Flyer des Gesundheitsministeriums – tatsächlich passt das volle Maßnahmenprogramm mittlerweile auf eine DIN-A4-Seite – kombiniert das Motiv des von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) angekündigten kalten Winters mit Symbolen aus dem Reifenhandel. „Winterreifen“ nennt sich die erste und bundesweit den ganzen Winter über gültige Stufe genereller Maßnahmen: Maskenpflicht im Fernverkehr der Bahn und bei Flugreisen, Masken- und Testpflicht in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, Test„angebote“ in Betrieben. Das Symbol der „Schneekette“ steht für die zweite Stufe des Anti-Corona-Instrumentariums, nämlich Maßnahmen, die ins freie Ermessen der Bundesländer gestellt sind: Maskenpflicht in öffentlichen Gebäuden, Restaurants und Personennahverkehr, Testpflicht in Schulen, Kitas und Asylbewerberunterkünften, Maskenpflicht in der Schule ab der 5. Klasse. Diese Regelungen treten nur dann in Kraft, wenn die Corona-Situation außer Kontrolle geraten sein sollte. Verbindliche Grenzwerte, die festlegen, ab welchem Gefährdungsgrad die „Schneeketten“ aufgezogen werden müssen, nennt das Gesetz nicht. Inzidenzen, Belegungsintensität der Intensivstationen, Zahl der symptomfrei oder symptomhaft Infizierten – all das kann herangezogen werden, muss aber nicht.

Der stille Abschied des obersten Corona-Bekämpfers der Republik von den Daten hat einen einfachen Grund: Nachdem das unlängst veröffentlichte Sachverständigengutachten zur Datengrundlage der in den letzten zwei Jahren gelaufenen Corona-Maßnahmen in der peinlichen Feststellung gipfelte, nicht eine einzige verlässliche Zahl ermittelt zu haben, lässt Lauterbach den Daten-Scherbenhaufen nun ganz hinter sich. Übrig blieb die Maske. Unstreitig hält sie Viren, Feinstaub und Aerosole ab und Lauterbach geht davon aus, die Bürger hätten sich an das Tragen gewöhnt. Dass die Pflicht zum Tragen der Maske ab Oktober an überhaupt keine Voraussetzung mehr geknüpft ist, wirkt nachgerade abenteuerlich. Auch Justizminister Buschmann fand hier kein Widerwort.

Die Bundesländer können ab Oktober nach Gutsherrenart zusätzliche Maßnahmen anordnen. Der im letzten Jahr allseits beklagte Flickenteppich der von Bundesland zu Bundesland verschiedenen Maßnahmenkataloge wird also bleiben, ja sogar noch buntere Blüten treiben: Ist es im einen Bundesland eine bestimmte Inzidenz, die das Aufziehen der „Schneeketten“ notwendig macht, ist es im benachbarten Bundesland die Belegungsquote der Intensivbetten. Die Novelle des Infektionsschutzgesetzes zeigt, dass der Glaube an die Effektivität des Impfens auch im Gesundheitsministerium nicht mehr besonders hoch ist. Zukünftig soll der Impfstatus bereits nach drei Monaten seine Wirksamkeit verlieren. Wer also häufiger maskenbefreit ein Restaurant oder eine Bar aufsuchen möchte, wird sich zukünftig im Dreimonatsturnus impfen lassen müssen. Lauterbach hat schon mal für 830 Millionen Euro Impfstoff bei den Pharmariesen geordert, obwohl er gleichzeitig verrät: „Wir wissen aber nicht, welche Varianten im Herbst uns konfrontieren werden.“ Für den Gesundheitsminister kein Grund zum Zweifeln. Schließlich wandern jeden Monat Millionen unverbrauchte Vakzine in den Müll.

Über den Autor

Ralf Hohmann (Jahrgang 1959) ist Rechtswissenschaftler.

Nach seinen Promotionen im Bereich Jura und in Philosophie arbeitete er im Bereich der Strafverteidigung, Anwaltsfortbildung und nahm Lehraufträge an Universitäten wahr.

Er schreibt seit Mai 2019 regelmäßig für die UZ.

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"Mit Schneeketten in den Herbst", UZ vom 12. August 2022



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