Digitale Profitmacherei in der Krankenversorgung

Eine unendliche Geschichte

Von Rudolph Bauer

In einem Beitrag am 7. Juli 2017 berichtete die UZ über „Die digitalisierte Krankenversorgung“ in der Bundesrepublik. Der Aufsatz behandelte Vorgeschichte, aktuelle Lage sowie gefährliche politische, ökonomische und soziale Folgen der milliardenschweren Totalumstellung, wie sie im Verlauf der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte im Rahmen von Tl (Abkürzung für Telematik-In­fraStruktur) zu beobachten waren bzw. noch zu erwarten sind.

Aktuell gibt es dazu Neues nachzutragen: Erst die gute Nachricht, dass es zu einem weiteren zeitlichen Aufschub kommen wird. Die Digitalisierung soll erst am 31. Dezember 2018 abgeschlossen sein, nicht schon am 1. Juli 2018. Es bleibt also noch etwas Zeit, den Protest dagegen zu mobilisieren.

Die schlechte Nachricht: Die Absichten des Gesetzgebers und der Industrie bleiben dieselben, und die Kostenlawine schwillt weiter an – zu Lasten der Krankenkassen, sprich: der Versicherten. Die 2002 – also vor vier Legislaturperioden – begonnene „Geschichte von Pleiten, Pech und Pannen“ (Landesrundschreiben 4 der KÄV Bremen vom 15.6.2017, S. 16) sollte – wie in der UZ berichtet – am 1. Juli 2018 ein Ende finden. So war es am 4. Dezember 2015 vom Bundestag beschlossen worden. Bis zu dem vereinbarten Stichtag sollten Krankenhäuser, Rehabilitationszentren und die Praxen von Ärzten und Psychotherapeuten mit der erforderlichen Hardware ausgestattet sein. Es kam aber anders.

Erinnern wir uns: Obwohl die Einführung der Tl am 1. Juli 2017 hätte beginnen sollen, war es zur Zeit des Wahlkampfes für den Bundestag um dieses Thema auffallend still geworden. Die Frankfurter Rundschau gab am 22. Juli 2017 Entwarnung: „Sie sollte 2006 eingeführt werden, ein zweistelliger Millionenbetrag war dafür geplant. Elf Jahre später, drei bis vier Milliarden Euro sind inzwischen ausgegeben, verkündet das Bundesgesundheitsministerium schon wieder, dass der erste Schritt zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte, das sogenannte ‚Versichertenstammdatenmanagement‘, erneut verschoben werden muss. Es stünden die technischen Geräte noch nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung.“

Die Industrie war nicht in der Lage, termingerecht zu liefern. „Und das nach 15-jähriger Planungszeit für das Pleitenprojekt, welches inzwischen auch vom Bund der Steuerzahler wegen Verschwendung scharf kritisiert worden ist“, berichtet die Hamburger Ärztin Silke Lüder, Sprecherin der Akton „Stoppt die e-card!“. Man stelle sich vor, ein Werktätiger liefert ein in Auftrag gegebenes Produkt nicht fristgemäß. Er wird gefeuert. Anders, wenn die Industrie nicht liefert. Dann wird die Lieferfrist verlängert, dann steigen die Preise, dann sprudelt weiterhin der Profit.

Unlängst, noch während der Sondierungsverhandlungen für eine neue Regierungskoalition, wurde ministeriell eine Rechtsverordnung erlassen und am 3. November vom Bundesrat genehmigt. Sie besagt, dass der Zeitpunkt des Onlineanschlusses aller Kliniken und Praxen verlegt worden ist. Statt zum 1. Juli 2018 sei die Einrichtung der Tl endgültig erst zum Jahresende 2018/19 verpflichtend und „sanktionsbewehrt“. Letzteres bedeutet, dass bei Nichtbefolgung bzw. Nichtinstallation der TI erhebliche Strafen zu erwarten sind.

Silke Lüder: „Die unendliche, milliardenschwere Geschichte geht also weiter. Trotz aller Werbemaßnahmen des Monopolisten, der als Anbieter von Arztpraxissoftware wöchentliche Hochglanzbroschüren an Arztpraxen versendet und dazu aufruft, Verträge über den Onlineanschluss zu unterzeichnen, obwohl die Geräte noch nicht einmal auf dem Markt sind.“ Die Profitmacherei findet also ihre staatlich geduldete Fortsetzung.

Passend dazu zwei Nachrichten aus dem Hause Arvato Systems, einem Unternehmenszweig des Bertelsmann-Konzerns der Familie Mohn. Am 6. August 2017 meldete eine Bertelsmann-Pressemitteilung, Arvato Systems stelle die zentralen Tl-Komponenten zur weiteren Erprobung zur Verfügung – obwohl die flächendeckende Bereitstellung der dezentralen Komponenten immer noch nicht abgeschlossen war. Und am 30. August meldet Arvato Systems, dass der seit 2013 bestehende Vertrag mit der gematik (Gesellschaft der Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH) von dieser bis zum Jahre 2020 verlängert worden sei.

Laut Vertrag „unterstützt“ Arvato Systems die gematik „bei der Einführung, Pflege und Weiterentwicklung der zentralen Telematikinfrastruktur für das Gesundheitswesen“. Ein Witz, der die Tatsache verschleiert, dass die bei der Bereitstellung einer zentralen Infrastruktur anfallenden Kosten zwar bezahlt werden müssen, dass dafür im Gegenzug aber keine Leistungen erbracht werden, weil die dezentralen Komponenten noch gar nicht flächendeckend zur Verfügung stehen, aufgebaut worden sind und arbeiten. Es ist zu befürchten: Fortsetzung folgt.

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"Eine unendliche Geschichte", UZ vom 24. November 2017



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