Zu seinem 60. Todestag

Erinnern an Thomas Manns Aktualität

Von Rüdiger Bernhardt

Thomas Mann hielt von Herbst 1940 bis zum Mai 1945 über das deutschsprachige Programm der BBC eine Reihe von meist monatlich ausgestrahlten Reden an deutsche Hörer.

Die folgende Ansprache wurde am 31. Januar 1945 ausgestrahlt:

Deutsche Hörer!

Das elende Subjekt, das sich noch Deutschlands Führer nennt und jeden, der sich der irren Fortsetzung eines über und über verlorenen Krieges widersetzt, mit schmählichem Tode bedrohen darf – Hitler also, hat den zwölften Geburtstag seiner Herrschaft, den schwärzesten Kalendertag der deutschen Geschichte, mit einer Radio-Rede begangen, der ihr Bewohner des besetzten Gebietes kaum noch werdet zugehört haben. Was geht es euch an, welche Register seiner vertrauten Schundrhetorik er zieht, um sein zur Neige gehendes Gaunerdasein heroisch zu verklären und sich als Gottesstreiter, als den erwählten Verteidiger Deutschlands gegen eine Welt tückischer Neidlinge, als den Vorkämpfer Europas gegen die auf nichts als Zerstörung sinnenden Horden des Ostens hinzustellen!

Sich selbst und das deutsche Volk, soweit es noch zuhört, sucht er noch einmal mit diesem schwachsinnigen, aber freilich unendlich unverschämten Gefasel zu betäuben. Er führt den Namen Deutschlands im Munde, des Landes, das er verdorben, entgeistet, von Grund aus und in jedem Sinn ruiniert hat, das er auf den tiefsten Punkt seiner Geschichte geführt und vor Gott und der Welt zum Greuel gemacht hat. „Europa“, sagt er – und meint den Erdteil, den er mit Füßen getreten, gefoltert, geschändet, entmannt, ausgemordet, aus dem er sechsundzwanzig und eine halbe Milliarde Dollars an sogenannten Besetzungskosten und an unbezahlten Gütern gepresst hat und für dessen Schutzherrn gegen östliche und westliche Seelenlosigkeit er sich nun ausgibt.

Kann noch irgendein Deutscher das ranzige Gerede dieses Menschen von der plutokratisch-bolschewistisch-jüdischen Weltverschwörung gegen ihn, den Verteidiger der höchsten Güter des Abendlandes, ohne den äußersten Ekel hören? Er hat das deutsche Volk belogen und ihm den Sinn vergiftet mit jedem Wort, das er ihm je ins Ohr bellte und heulte. Jetzt will er sich vor dem ihm eingeborenen, dem unvermeidlichen Verhängnis retten, sich und sein mit Verbrechen beladenes Regime, und wieder belügt er ein Volk, das schon sein Alles für eine verworfene Sache hingegeben hat.

Damit es weiter, immer weiter aushält, blutet und opfert in einem verlorenen Kampf, schwört er ihm, dass nichts, was es jetzt leidet, auch nur entfernt den Vergleich werde aushalten können mit dem entsetzlichen Elend, das Deutschland zu gewärtigen habe als Folge seiner eingestandenen Niederlage. Er tut, als werde es Deutschland ergehen wie den Ländern, in die die Gestapo einzog hinter seinen Truppen. Er tut, als seien Deutschlands Gegner Nazis und würden sich gegen den Besiegten benehmen, wie Nazis das tun.

Deutschlands Gegner und Besieger sind aber keine SS-Schinder und Bestien, sondern Menschen – ihr Bewohner des besetzten Gebietes im Westen wisst es schon. Eben weil sie Menschen sind, die sich in grundsätzlichem Gegensatz zum Nationalsozialismus noch an einen gewissen Ehrenkodex des Rechtes und der Gesittung gebunden fühlen, waren sie zeitweilig im Nachteil gegen einen Feind, der solche Hemmungen nicht kannte.

(…)

Jedes Erinnern an Thomas Mann (1875–1955) zeigt, wie dieser Schriftsteller und Denker in unserem Geist verwurzelt ist, wie eine deutsche Kulturgeschichte nicht auf ihn zu verzichten vermag und eine europäische ihn zu ihrem Kronzeugen machte, wie er alle Moden überdauert hat und nach wie vor als strahlendes Beispiel deutscher Literatur vor Augen steht, aber auch als ein Beispiel für eine tadelsfreie moralische Haltung, die bis heute nur zu gerne durch Anekdoten und Schnurren, Spitzfindiges zu Thomas Manns Sexualität und Ehe, Abseitiges zu seinem Verhältnis zu den Nazis verdächtigt wird. Seine Beispielhaftigkeit wurde bereits in seinem Welterfolg „Buddenbrooks“ deutlich, der für viele Menschen die erste, meist eine sehr dauerhafte Erinnerung an Thomas Mann ist und vielen bis heute sogar als Stadtführer für Lübeck dient: Der Roman ist, wie viele Werke des Nobelpreisträgers, nicht ohne das patrizische Bürgertum Lübecks zu denken; sein Schöpfer zeigte Tugenden und Grenzen dieser Bürgerlichkeit auf, mit dem er sich noch in Übereinstimmung fühlte und dessen Bürgerlichkeit er lebenslang zu führen versuchte. Umso bemerkenswerter ist die Ehrlichkeit dieses Romans, der den Untertitel Verfall einer Familie trägt und damit auf einen Epochenumbruch aufmerksam macht: Es war der Übergang von einer „deutschbürgerlichen Kultur“ (Thomas Mann: Lübeck als geistige Lebensform) auf hohem moralischen und kulturellen Niveau zu einer imperialistischen Herrschaftspolitik ohne moralische Werte. Melancholisch nahm Thomas Mann Abschied von einer Gesellschaft, die er selbst verkörperte. Was ihm über den Verlust hinweghalf, war seine vielgerühmte Ironie, die im Romanfragment Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954) geradezu satirisch zum schelmenromanhaften Abschied von der Bürgerlichkeit überhöht wurde, als Thomas Mann einen pervertierten Bürgersohn, der die personifizierte Verantwortungslosigkeit ist, zum Kriminellen werden lässt. Konsequent setzte Thomas Mann sein Thema des bürgerlichen Menschen lebenslang durch. Der schlichte Bürgerliche Hans Castorp im Bildungsroman Der Zauberberg (1912–1924) setzt sich nicht nur mit seiner Klasse auseinander und schließlich von ihr ab, sondern verlässt auch mit seinem Weggang aus dem Hochgebirgssanatorium eine zum Untergang verurteilte Welt, die überholter Liberalismus, ausgehöhlte Demokratie und bildungsstolze Arroganz nicht mehr zu erhalten vermögen. Es war folgerichtig, dass Thomas Mann auf diesem Wege frühzeitiger als andere zum Ankläger des Faschismus wurde und es dauerhaft geblieben ist. In der Novelle Mario und der Zauberer (1930), die im faschistischen Italien spielt, beschrieb er eine dämonische Atmosphäre, die in selbstverständlicher Menschenverachtung mündet. Es war nicht nur eine Beschreibung der Manipulation des Menschen durch den Faschismus, sondern darüber hinaus die Darstellung eines fremdbestimmten Menschen, der zu jeder Tat fähig gemacht wird. Mit dem Roman Doktor Faustus (1947) schuf er ein gigantisches Werk über die Ursachen, Gründe und weitverzweigten Wirkungen faschistischen Denkens, wie es heute noch im Alltagsgewande toleriert wird. Dabei hat Thomas Mann die eigene Bürgerlichkeit nie aufgegeben, auch wenn er zum Partner aller, auch der sozialistischen Exilanten im Dritten Reich und zum scharfen Gegner jeder Art von Antikommunismus wurde. Seine Bildung bewahrte ihm seine Toleranz gegenüber Flüchtlingen, Andersdenkenden, die er als Partner wahrnahm und wodurch er in Umrissen eine andere menschliche Zukunft erkannte. Aber seine Bürgerlichkeit hatte nichts mit Bourgeoisie zu tun, sondern war ein Erbe der Bildung und der Kunst; Bildung wurde bei ihm zur Kunst, ein heute nur selten zu findender Vorgang, weshalb Kunst oft an Dauer und Stetigkeit verliert und zum kurzen Event verkümmert. Dass die Verbindung von Bildung und Kunst zum Tode verurteilt ist, wenn sie ihre gesellschaftliche Funktion aufgibt, beschrieb Thomas Mann in seiner Novelle Der Tod in Venedig (1913).

Thomas Mann war als Zeitgenosse des europäischen Naturalismus und seiner Auflösung in verschiedene Strömungen in die Literatur eingetreten. In seiner Sicht waren die Buddenbrooks ein „naturalistischer Roman“, der sich aus einer „städtischen Chronik“ entwickelt habe. Mehrfach wiederholte er diese Beschreibung. Naturalistisch war die Treue des Details ebenso wie die genaue Beurteilung des Milieus als einer wesentlichen Konstante der menschlichen Psyche. Als Thomas Manns Verleger Samuel Fischer 1934 starb, reagierte der Schriftsteller, der Deutschland bereits verlassen hatte, mit einer Darstellung seiner Erschütterung und seiner Beziehung In memoriam S. Fischer. Darin beschrieb er sich als einen Schriftsteller des Naturalismus, in einer Reihe mit Arthur Schnitzler, Gerhart Hauptmann, Henrik Ibsen und anderen. Diese Ansicht durchzieht Thomas Manns essayistisches Werk von Anfang an. Der Ausgangspunkt waren die Betrachtungen eines Unpolitischen (1918): „ … es ist für Deutschland der vielleicht erste und einzige naturalistische Roman und auch als solcher, schon als solcher von künstlerisch internationaler Verfassung, europäisierender Haltung, trotz des Deutschtums seiner Menschlichkeit.“ Auch das war ein prägendes Kennzeichen seines Denkens und seines Werkes. Er fühlte sich stets als ein Deutscher in der Welt, weil er das Internationale achtete, die anderen Menschen, die andere Kunst, das andere Leben. Er sah in der Kunst eine Möglichkeit der Einheit von Welt und Deutschland, eine Einheit, die der Faschismus zerstört hatte.

Thomas Mann hat präzise Zeit- und Ortsangaben in die Buddenbrooks eingebaut, die den umfangreichen historischen und territorialen Hintergrund gliedern, auf den er in allen seinen Werken größten Wert legte: Er wurde vor allem vom ausgehenden 19. Jahrhundert geliefert, das der Autor für sich in Anspruch nahm. In den Buddenbrooks bietet das 1. Kapitel des 1. Teils zu Beginn den zeitlichen Einstieg: 1835; der Roman endet mit dem Tod Hanno Buddenbrooks 1877. Lebens- und Arbeitsgrundsatz der Kaufmannsfamilie Buddenbrook war:

„Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, dass wir bey Nacht ruhig schlafen können.“ Der Satz findet sich frühzeitig in der Familienchronik und wurde der Satz für Sinnen und Tun der Familie; er trug sie über fast ein Jahrhundert und er verlor seine Gültigkeit, als ein solcher moralischer Grundsatz seine Bedeutung verlor.

Am 21. Juli 1949 besuchte Thomas Mann Weimar, wo ihm der Goethe-Preis verliehen wurde. Neben ihm Werner Eggerath, Ministerpräsident von Thüringen.

Am 21. Juli 1949 besuchte Thomas Mann Weimar, wo ihm der Goethe-Preis verliehen wurde. Neben ihm Werner Eggerath, Ministerpräsident von Thüringen.

( Bundesarchiv, Bild 183-S86717 / Heilig / CC-BY-SA)

Man schlief auch in den nächsten Generationen ruhig, wenn man Kriege geführt, Völker vernichtet und massenhaft Verbrechen begangen hatte. Die „grausame Brutalität des Geschäftslebens“ ließ Thomas Buddenbrook alle moralischen Skrupel aufgeben, um wieder in den Kreis der soliden Bürger aufgenommen zu werden, die längst ihre Solidität verloren hatten. In diesem Zwiespalt ging die Familie unter, mit ihr die vorbildliche Bürgerlichkeit, der sich Thomas Mann verpflichtet sah. Zwischen diesem Verfall einer Familie und dem Untergang einer ganzen Welt, einschließlich ihrer geistigen Repräsentanten, wie Thomas Mann sie im Doktor Faustus gestaltete, lag nicht einmal ein halbes Jahrhundert. Aus dem melancholischen Bürger der Jahrhundertwende von 1900 war ein „militanter Humanist“ geworden. Thomas Mann forderte 1936 in seiner Rede Der Humanismus und Europa einen „militanten Humanismus“ als Gegensatz zu jeglichem Fanatismus. Seine Bücher wurden zu Sendschriften dieses Humanismus, der zu einem der politischen Ziele des Schriftstellers wurde. In besagter Rede ging er auch auf die europäischen Traditionen, auf den griechisch-römischen Mythos ein, aber auch auf das moderne Europa. An dieser Bestimmung des modernen Europas hat sich nichts geändert, vielmehr sind Thomas Manns Feststellungen aktueller geworden: „Europa wird nur sein, wenn der Humanismus seine Männlichkeit entdeckt und nach der Erkenntnis handelt, dass die Freiheit nicht zum Freibrief ihrer Todfeinde und ihrer Mörder werden darf.“ Dass Kredite, Privatisierungen, soziale Einschnitte zu Europas Voraussetzungen gehören, wie wir es erleben, dass die Mörder und Brandstifter wieder unter uns sind gegen Flüchtlinge, wie auch Thomas Mann einer war, dem von fremden Ländern geholfen wurde dem Faschismus zu entkommen, davon war in Thomas Manns Bestimmung Europas keine Rede.

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Erinnern an Thomas Manns Aktualität", UZ vom 21. August 2015



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