Zwischen Linkspartei und Wagenknecht: „Was tun?!“-Netzwerk diskutierte Perspektiven nach Spaltung der „Linken“

Flucht nach vorn

Es war eine Schicksalsgemeinschaft, die am vergangenen Samstag zum zweiten „Was tun?!“-Kongress in Frankfurt am Main zusammenkam. Die knapp 250 Teilnehmerinnen und Teilnehmer einte der gemeinsame Kampf, den sie als innerparteiliche Opposition in der Partei „Die Linke“ geführt hatten, und das Scheitern bei dem Versuch, eine grün-linksliberale Neuausrichtung der Partei zu verhindern.

Den folgenden Exodus von Linken aus der „Linken“ begleiteten eher nachdenkliche Töne. 33 Jahre lang, erklärte ein Redner am Saalmikrofon, sei er dabei gewesen. Nach der „Propagandaschau“ auf dem Augsburger Parteitag trat er aus. Das sei „schmerzvoll, nicht einfach“ gewesen. Viele auf dem Kongress hatten die Partei bereits verlassen oder ihren Austritt angekündigt. Nur noch eine Minderheit setzte sich dafür ein zu bleiben. Dieses Kräfteverhältnis zeigte sich in den beiden gleichzeitig stattfindenden Foren des Kongresses. Rund 30 Genossinnen und Genossen fanden sich in dem Raum ein, in dem über die weitere Arbeit in der Linkspartei diskutiert wurde. Die übergroße Mehrheit traf sich unter der Fragestellung „Was erwarten wir von einer neuen politischen Kraft rund um Sahra Wagenknecht?“.

Die Gründung des Vereins Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hat die Ausgangsbedingungen für „Was tun?!“ verändert. Die neue Partei, die im Januar gegründet werden soll, betrachteten viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Ausweg aus der politischen Heimatlosigkeit. Mehrfach wurden die Hoffnungen formuliert, dass ein parlamentarischer Gegenpol zum herrschenden Kriegskurs sowie zur Einschränkung der Meinungsfreiheit entstehen und zudem die AfD geschwächt werden könnte. Der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko fasste die „Wiedererlangung der Oppositionsfähigkeit“ als Ziel zusammen und erntete Applaus.

Die Diskussion zeigte jedoch auch, dass diese grundsätzliche Zustimmung zur neuen Partei nicht bedingungslos ist. Mehrere Rednerinnen und Redner hatten kritische Fragen zur Mitgestaltung des Projekts. Im Verein BSW ist eine Mitarbeit derzeit nicht möglich, die Parteigründung soll von 400 ausgewählten Mitgliedern gestemmt werden. Der Bundestagsabgeordnete Klaus Ernst sprach von einem „Top-Down-Projekt“, das „kontrolliert wachsen“ solle. Der Debatte tat dies keinen Abbruch. Es werde zu Recht kritisiert, dass „Die Linke“ im EU-Wahlprogramm nicht mehr von Sozialismus spreche, das tue BSW jedoch auch nicht, sagte eine Teilnehmerin. Überhaupt müsse sich erst noch zeigen, ob die Partei eine sozialistische Orientierung haben werde. Die bislang bekannten politischen Grundforderungen des Bündnisses wurden zudem als oberflächlich und inhaltsleer kritisiert.

Die politische Debatte jenseits dieser strategischen Fragen war von einem solidarischen Umgang und einer klaren antiimperialistischen Grundhaltung geprägt. Große Übereinstimmungen gab es bei der Einschätzung der Linkspartei. „Was tun?!“-Mitorganisator Andreas Grünwald übte scharfe Kritik am in Augsburg beschlossenen EU-Wahlprogramm, das die „EU nicht ein einziges Mal als das kennzeichnet, was sie ist: ein undemokratisches imperialistisches Projekt nach innen und außen“. Die aus den Kreisen der Rosa-Luxemburg-Stiftung entwickelte und von der Parteiführung betriebene „disruptive Neugründung“ betrachtete er als „nicht mehr korrigierbar“. Allein seit der Bundestagswahl seien Mitglieder in einer fünfstelligen Größenordnung ausgetreten.

In einem bemerkenswerten Referat widmete sich Naisan Raji von „Linksrum Hessen“ der materiellen Basis der Linkspartei. Sie stellte fest, dass die Partei „eine deutliche Professionalisierung“ durchgemacht habe. Die hauptamtlichen Funktionäre entstammten zum großen Teil einer Schicht „gut qualifizierter Akademiker (…), die die sozialen Konsequenzen neoliberaler Politik individuell“ zu umgehen versuche. „Die Linke“ habe sich den Interessen dieser Schicht angenähert und ihre ursprünglichen Anhänger fallengelassen. Ohne marxistische Bildungsarbeit oder eigene Erfahrungen im Klassenkampf habe sich in der Partei eine Kraft herausgebildet, deren Ziel „nicht die Stärkung der realen und der gesamten Arbeiterklasse ist, sondern die Verbesserung der eigenen Konkurrenzfähigkeit innerhalb der arbeitenden Bevölkerung“.

Auch zur Weltlage fand der Kongress deutliche Worte. Attac-Mitgründer Peter Wahl stellte den Umgang der politischen Linken mit der Herausbildung einer multipolaren Welt in den Mittelpunkt seines Referats. Einigkeit herrschte bei der Verurteilung der NATO-Kriegstreiberei sowie bei der von Wahl formulierten Erkenntnis, „dass es nicht mehr genügt, mit Emotion, Affekt und einfachen moralischen Urteilsweisen“ auf geopolitische Entwicklungen zu reagieren.

Die Notwendigkeit einer breiten Friedensbewegung und deren Anbindung an gewerkschaftliche Kämpfe wurde in der Abschlusserklärung betont, in der das eigenständige Weiterbestehen von „Was tun?!“ beschlossen wurde, als „Brücke zwischen dem Erfurter Programm, sozialistischen Vorstellungen und den neuen Herausforderungen, die sich für die neue Partei wie auch für ‚Die Linke‘ stellen“. Das Netzwerk wünscht Wagenknecht Erfolg, will aber auch seine verbliebenen Linksparteimitglieder unterstützen und „versuchen, linke und sozialistische Traditionen in die neue Partei einzubringen“. Wie gut das im noch weitgehend unklaren Gründungsprozess gelingen kann, werden die kommenden Monate zeigen.

Weitere Infos unter: kurzelinks.de/was-tun

Über den Autor

Vincent Cziesla, Jahrgang 1988, ist seit dem Jahr 2023 Redakteur für das Ressort „Politik“. Der UZ ist er schon seit Jahren als Autor und Verfasser der „Kommunalpolitischen Kolumne“ verbunden. Während eines Praktikums lernte er die Arbeit in der Redaktion kennen und schätzen.

Cziesla ist Mitglied des Neusser Stadtrates und war von 2014 bis 2022 als hauptamtlicher Fraktionsgeschäftsführer der Linksfraktion in Neuss beschäftigt. Nebenberuflich arbeitet er in der Pflege und Betreuung von Menschen mit Behinderung.

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"Flucht nach vorn", UZ vom 8. Dezember 2023



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