Ronald M. Schernikaus „LEGENDE“ ist wieder da

Freuen ist Minimum

Von Ken Merten

Der prominenteste Satz der Bibel ist deren erster: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Also fangen wir auch mit „LEGENDE“ am Anfang an: „die welt ist einfach.“ Auf dem ersten Blick wirkt der Einstieg ins wichtigste Stück Literatur des Abendlandes klar respekteinflößender. In sich hat es indes aber auch die allem vorangehende Feststellung in Ronald M. Schernikaus frühem Alterswerk – er starb bereits mit 31 Jahren, 1991; „Ein Alterswerk“ war ein Arbeitstitel von „LEGENDE“, erfahren wir in Lucas Mielkes Nachwort zur Neuausgabe.

„Der Satz ist wie eine schlichte Holztür, hinter der sich der Trödel von Jahrhunderten zur Decke türmt“, schreibt Stefan Ripplinger, Wegbegleiter Schernikaus und selbst in „LEGENDE“ verewigt, in seinem Essayband „Kommunistische Kunst“. Er sei, so Ripplinger, „nie wirklich über den ersten Satz […] hinausgelangt“.

Klar, „LEGENDE“ ist eine Herausforderung. Samt Nachwort und Kommentaren geht die Seitenzahl der vom Verbrecher Verlag Ende September herausgegebenen Neuausgabe ins Vierstellige. Sie ist damit noch umfangreicher als die längst vergriffene Erstausgabe (Goldenbogen, Dresden 1999).

Aber nicht nur die reine Masse erschwert den Erstzugriff. „LEGENDE“ ist eine Montage. Sie vereint nicht nur eine Handlung, auch Ästhetikessays, Kunstrezensionen, Zitatesammlungen, schlechte Witze und mit den Einlagen frühere Werke Schernikaus, wie „irene binz, die frau im kofferraum“, ein in Blankverse gebrachtes Interview, das Schernikau bereits 1981 mit seiner Mutter Ellen geführt hat.

Doch das Arrangement der elf Bücher, die „LEGENDE“ umfasst, macht den Zugang und das Lesen leichter. Der Hauptplot wird ja überanschaulich klargemacht: „[…] weil die götter freundlich sind, müssen sie zurück auf die erde.“ Die vier Götter fifi, kafau, stino und tete machen den Abstieg vom Himmel auf die Erde, um den Menschen das Glück zu bringen. Glück, lässt Schernikau wissen, „ist eine spielart des kommunismus“. Die Götter, auch das ist bei Schernikau ziemlich transparent, sind zeithistorischen Figuren nachgezeichnet: der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof, der Schauspielerin Therese Giehse, Max Reimann (Vorsitzender der KPD, auch über ihr Verbot im Westen hinaus), und dem Autor Klaus Mann. Wo die vier als „avantgarde des volkes“ hinreisen, und Che-Guevara-mäßig Guerillakrieg gegen die Herrschenden führen: auf die „insel“, die umgeben ist vom „land“: „mitten im tod sind wir vom leben umfangen nicht wahr, mitten auf der insel sind wir vom land umgeben, mitten in der zukunft die vergangenheit.“

Wer dabei an Westberlin und die DDR denkt, denkt nicht falsch. Schließlich ist herr lange, der das „land“ regiert, auf friedliche Koexistenz mit der „insel“ aus. Schernikau bringt hier seine Abneigung gegen Erich Honeckers Politik der Annäherung an den Imperialismus zum Ausdruck: „je eher die insel zusammenbricht, desto eher der frieden; eine these, die ich allerdings in der öffentlichkeit niemals vertreten würde“, lässt Schernikau die „insel“-Kommunistin lydia soldat geb. königin diametral zu ihrer eigenen Aussage in einem Interview sagen.

Bei allem, was in „LEGENDE“ mal mehr, oft weniger verkleidet als Kritik an der realsozialistischen Außen- und der westkommunistischen Bündnispolitik, in der die Kommunisten oft bis zur Unerkennbarkeit abtauchten, durchscheint, weicht Schernikau auch in seinem Opus magnum nicht davon ab, für wen sein Herz schlägt, Konterrevolution und Mode zum Trotz. Schernikau: „habermas hat ne hasenscharte./knef hat keine linke brust./rothenberger ist halbseitig gelähmt,/schernikau liebt die ddr.“

Hier, im Inhaltlichen und dem, was sich aus ihm herausinterpretieren lässt, scheint das Erstaunen durch, was sich fast anfühlt wie Erschrecken: Die Poesie aus sprachlicher Simplizität und umhauender Treffsicherheit, immer und immer wieder verpackt in trivial anmutenden Paradigmen. Wie die Bibel, ist auch Schernikaus Buch – er selbst labelt es „das schönste musical der welt“ – eine Anmaßung, in der munter behauptet wird, die Welt zur Gänze verstanden zu haben. Mit dem T-Shirt-druckreifen Satz „der kommunismus wird siegen werden“, verweist Schernikau darauf, dass der Gang der Welt feststeht, dass er einsehbar ist und die Veränderbarkeit der Welt ihn ermöglicht.

Wie die (Vor-)Geschichte mit dem Kommunismus ein glückliches Ende hat, ist auch „LEGENDE“ eine Komödie in Romanformat. Davon lässt sich Schernikau bei der Herstellung auch nicht von zwingenden Umständen abbringen, wie seiner tödlichen HIV-Infektion oder der Zerstörung des sozialistischen deutschen Staates.

Weder Verdruss noch selbstgenügsame Negation lässt Schernikau durchgehen: „wenn es schon keine freude gibt, will ich mich wenigstens freuen.“ Zur Erkenn- und Änderbarkeit der Welt zählt für ihn, mit den Gegebenheiten umzugehen und nicht trotzig gegen sie zu sein. Die Trotzigkeit, das ist in „LEGENDE“ Bonzenzögling janfilip geldsack, dem Literaturmäzen Jan-Philipp Reemtsma nachgebaut. Der will nicht Schokoladenfabrikant sein, ist lieber lebensmüde und bittet, inständig zwar, aber ohne viel Zutun und mit noch weniger Bewusstsein um die gesellschaftlichen Verhältnisse, vehement um seine Vernichtung. Obwohl die Überwindung der Herrschaft seiner Klasse historisch unvermeidlich ist, ist sie doch kein Geschenk der Götter, wie sie klarmachen, sondern anstehende Tat der Menschen.

Hegel: „Die ideale Kunstgestalt steht wie ein seliger Gott vor uns da. Den seligen Göttern nämlich ist es mit der Not, dem Zorn und Interesse in endlichen Kreisen und Zwecken kein letzter Ernst.“ Es gibt kaum ein Werk in dieser Sprache, das wie „LEGENDE“ eine Unernsthaftigkeit in diesem Sinne in sich hält. Der Roman ist ein Prachtbau, der sich erhebt über seine Bibelbaupläne, die Dante-, Brecht- und Irmtraud-Morgner-haften Fundamente, die Rainald Goetzschen, Gisela Elsnerschen, Elfriede Jelinekesken Sprachbausteine des Hacksianers Ronald M. Schernikau. „LEGENDE“ ist nichts zum Davor-starre-Ehrfurcht-Haben, sondern ein Werk, in dem zwischen all dem Trödel wuchert, was kommen werden wird: für alle das Ende der Not.

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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Freuen ist Minimum", UZ vom 22. November 2019



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