Terézia Moras neuer Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises

Gemartertes Bewusstsein

Für ein Lob, in dem eine Beleidigung mitschwingt, hat man im Englischen „comsult“ erfunden, ein Kofferwort aus „compliment“ und „insult“. Hierzulande hat man dagegen seit 2005 einen Literaturpreis, mit dem der Börsenverein des Deutschen Buchhandels alljährlich seinen Schabernack treibt. Denn auf die Listen zum Deutschen Buchpreis zu kommen, ihn gar zu gewinnen, ist für die Autorin oder den Autor eine mindestens zweischneidige Sache. Denn dort wird unterschiedslos große Leistung neben Schund gereiht, oft scheint allein der Name auf dem Deckel ausschlaggebend zu sein für die Nominierung, dazu die Leitverlage, die repräsentiert sein müssen, wie auch immer ihr Programm ausschaut. Die Jurybegründungen, mit denen der Preis vergeben wird, egal ob letztes Jahr an Kim de l’Horizon („Blutbuch“) oder 2008 an Uwe Tellkamp („Der Turm“), fallen ihrem Genre konform stets arm an Argumenten aus und sind so austauschbar wie ein Heinz Strunk durch den anderen.

Zur diesjährigen Shortlist gehört Büchner-Preisträgerin Terézia Mora mit ihrem neuen Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“, genau zehn Jahre nachdem sie bereits für „Das Ungeheuer“ den Buchpreis erhielt. Durch den Titel wissen wir schon viel vom Inhalt: Muna Appelius ist am Ende des Romans halb so alt wie bundesdeutsche Frauen im Schnitt werden. Aufgewachsen ist sie im fiktiven DDR-Städtchen Jüris. Der Vater hat sich früh Lungenkrebs erraucht und ist nicht mehr da, um vom Wein der Mutter abzutrinken, die, ihrer Profession als Theaterschauspielerin entsprechend, extrovertiert und alkoholabhängig ist, mit Abklingen ihrer Karriere lebensmüder wird. Trotz aller Extreme wird sie die Frauenfigur sein, die sich im Gegebenen einrichtet, abends auf das vierte Glas verzichtet, „das sie unglücklich machen würde“, und vor der Rente noch am Schalter einer Praxis arbeitet und die Em­pfangsdame mimt, „jeden Einzelnen in ihren Bann“ zieht. „Die gute Seele der Einrichtung.“

Muna dagegen kann sich nicht abfinden, vor allem nicht damit, dass ihre große Liebe, der Redakteur Magnus, von einer Radtour in Ungarn nicht mehr zurückkehrt: Rübergemacht, kurz bevor der Sozialismus in Europa gänzlich kollabiert.

Zumindest über Magnus’ Abgang möchte man froh sein, sind die Zeichen dafür von Anfang an da, dass er Muna und wahrscheinlich keiner anderen potenziellen Partnerin gut tut. Muna aber hat sich verliebt, bleibt im Kopf auch während des geisteswissenschaftlichen Studiums in Berlin bei ihm, auch während sie eine Affäre mit einem ihrer Dozenten beginnt: „Ich hatte ihn mittlerweile öfter im Leben gesehen als Magnus, ich hatte mehr mit ihm gesprochen, ich war dreimal im Theater mit ihm gewesen, ich hatte sogar mehr körperlichen Kontakt mit ihm, um es so auszudrücken. Werde ich eben mit ihm schlafen.“ Muna erlebt Beziehungen fortwährend als Hierarchien, in der sie die Niedrige ist. Auch in ihrer akademischen und beruflichen Karriere wird sie von Männern in Machtpositionen schlechter gestellt und gedemütigt.

Der Mehraufwand, den sie dadurch betreiben muss, die emotionale Bewältigung des fortwährenden Missbrauchs durch den wieder aufgetauchten Magnus, hemmt sie bis zur zeitweiligen Aufgabe ihrer Dissertation über autobiografisches Schreiben von Autorinnen in der österreichisch-ungarischen KuK-Monarchie. Sie erfüllt unerfüllbare Erwartungen nicht und kreidet sich die Fehlleistungen fortwährend selbst an.

„Mieses Stück parfümierte Scheiße!“ – als Magnus sie nach einem brutalen Übergriff so beschimpft, kann Muna nicht mehr auseinanderhalten, ob er es war, der sie beleidigte, oder ob seine Stimme bereits in ihr gemartertes Bewusstsein gelangt ist und von dort aus spricht und befiehlt. Die Stärke an Terézia Moras Roman ist die ausgebreitete Psychologie der Hauptfigur Muna, die durch die sexistischen Verhältnisse davon abgehalten wird, hinter eben jene Unterdrückung zu blicken oder sie gar zu durchbrechen.

Und nun könnte man es unehrlich eine künstlerische Entsprechung dessen nennen, dass der Roman unkonzentriert und verplaudert geschrieben ist. Terézia Mora, 1971 geboren und bilingual aufgewachsen als Angehörige einer deutschen Minderheit in Ungarn, scheint sich für die Sprache beim Schreiben wenig zu interessieren; preisgünstige Kniffe, wie unausgesprochene Satzfetzen von Muna als durchgestrichene im Roman zu dokumentieren, retten den lieblos verfassten Aufsatz auf Dauer nicht.

Auch inhaltlich zeigt die Autorin wenig Interesse am selbstgewählten, realistisch verarbeiteten Stoff und dem Zeitfenster, in dem er spielt, auch wenn sie mit ihrer Hauptfigur wohl das Geburtsjahr teilt: Dass die DDR nicht als Vorhof zur Hölle dargestellt wird, mag weniger mit einem affirmativen Zugriff auf den Realsozialismus und mehr damit zu tun haben, dass es recht beliebig scheint, wo und wann die Handlung geschieht. Das prekäre Dasein im Literaturbetrieb der Bundesrepublik wird schließlich auch als gegeben hingenommen, das Durchwurschteln als studierte Niedriglöhner als quasi natürlich.

Am sichtbarsten wird die Freudlosigkeit, mit der da geschrieben wurde, wenn bereits in den ersten Jahren der 1990er Privatpersonen daheim mit Laptops hantieren sollen und fortan auf vierhundert Seiten ein Glitch eingezogen ist, der die Handlung ob der im Vorbeilaufen verhandelten Themen (darunter Fragen der Identitätspolitik) und des Umgangs mit Kommunikationsmitteln und Medien um Jahrzehnte in Richtung Gegenwart rutschen lässt, ohne dass ersichtlich wird, warum. Vielleicht auch in Anbetracht der Deadline für den Deutschen Buchpreis, für den Verlage nur Bücher einreichen dürfen, die bis September des jeweiligen Jahres erschienen sind, schloss das Lektorat davor seine Augen. Das Produkt musste fertig sein, um Literatur schert man sich derzeit wenig.

Terézia Mora
Muna oder Die Hälfte des Lebens
Verlag Luchterhand, 448 Seiten, 25 Euro

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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Gemartertes Bewusstsein", UZ vom 29. September 2023



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