Die Rache der Bloßgestellten hat Julian Assange ereilt

Hetzjagd auf Whistleblower

Von Manfred Idler

Es hatte schon länger Gerüchte gegeben, dass die ecuadorianische Regierung Julian Assange das Asyl in der Londoner Botschaft des Landes entziehen werde. Der „Whistleblower“ und WikiLeaks-Begründer steht auf den Fahndungslisten Schwedens – wegen angeblicher Vergewaltigung, der USA – wegen Spionage, und Britanniens – wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen. Zuflucht in der Botschaft war ihm im Juni 2012 vom ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa gewährt worden. Dessen Nachfolger, Lenín Moreno, hat ihm das Asyl und ohne Verfahren die vor einem Jahr gewährte Staatsbürgerschaft entzogen, der Australier Assange wurde am 11. April in den Räumen der Botschaft von Beamten der Groß-Londoner Polizei festgenommen. Sechs Polizisten zerrten den kranken Journalisten aus dem Gebäude, der die Augen vor dem ungewohnten Tageslicht zusammenkniff.

Grundlage der Verhaftung ist ein Haftbefehl vom Juni 2012 wegen Nichterscheinens vor dem Richter sowie ein Auslieferungsersuchen der USA. Für das erste Vergehen droht Assange bis zu einem Jahr Gefängnis, er könnte aber auch mit einer Geldstrafe davonkommen. Schweden hat bislang noch kein Auslieferungsersuchen gestellt, daher ist die Forderung von 70 Abgeordneten des britischen Unterhauses voreilig, Assange dorthin zu überstellen. Oppositionsführer Jeremy Corbyn appellierte an Premierministerin May, die Auslieferung an die Vereinigten Staaten zu verhindern.

Denn dort droht Assange Rachejustiz statt eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Großbanken und internationale Konzerne, das Militär und die Geheimdienste hat sich WikiLeaks – Selbstbezeichnung: Erster Geheimdienst des Volkes – seit der Gründung im Jahr 2006 durch die Veröffentlichung geheimer und interner Dokumente zu Feinden gemacht. Nicht verzeihen können die Herrschenden in den USA die Veröffentlichung eines Videos aus dem Irak im April 2010, das zeigt, wie 2007 jubelnde US-Soldaten aus einem Hubschrauber heraus zehn Zivilisten erschossen, weil sie sie für Rebellen hielten. Daneben wurden hunderte Fälle von Folter durch US-Militärangehörige aufgedeckt. Kriegsverbrechen öffentlich zu machen, das ist in den Augen US-amerikanischer Hurrapatrioten weit schlimmer als das Verbrechen selbst. Dafür und für die Veröffentlichung von Hunderttausenden Dokumenten und E-Mails soll Assange verurteilt werden und die maximal fünf Jahre, die als Höchststrafe auf Computerkriminalität stehen, sind seinen geifernden Verfolgern nicht genug. Sie fordern, die Anklage zu erweitern auf Spionage oder gar Hochverrat, einen Vorwurf, der auch eine Verurteilung zum Tode nach sich ziehen könnte. Das wäre ganz im Sinne von Hasskommentatoren wie Ben Beckel, der in der Talk-Show „Follow the Money“ des rechtsextremen US-Fernsehsenders „Fox News“ die Ermordung Assanges durch Spezialeinheiten der Armee forderte. Es lohnt sich, die Aussage Beckels zu zitieren: „Dieser Kerl ist ein Verräter, er ist verrückt und er hat gegen jedes Gesetz der Vereinigten Staaten verstoßen. Und da ich nicht für die Todesstrafe bin … es gibt nur einen Weg: den Hurensohn außerhalb der Gesetze zu erschießen.“ Die anderen Gäste der Show schienen einverstanden.

Nicht zufällig reiht sich Donald Trump nicht in die Phalanx der mordlüsternen Verfolger ein. Von der Veröffentlichung von E-Mails und Dokumenten der Demokratischen Partei durch WikiLeaks hat er in seinem Wahlkampf sogar profitiert. Er wisse nichts über WikiLeaks und überlasse die Sache seinem Justizminister, hörte man von dem Präsidenten, den Unkenntnis sonst nicht daran hindert, alles und jedes zu betwittern. Zeitpunkt und Ablauf der Verhaftung sehen aber nach einem großen politischen Deal aus. Ist es denn ein Zufall, dass die WikiLeaks-Informantin Chelsea Manning, die bereits eine siebenjährige Haft nach einem Geheimprozess abgesessen hat, am 8. März in Beugehaft genommen wurde? Damit sollen ihr Aussagen gegen WikiLeaks abgepresst werden.

Bei Lenín Moreno sind eigene Interessen im Spiel. Im April 2017 war er gewählt worden für sein Versprechen, die fortschrittliche Politik seines Vorgängers Rafael Correa fortzusetzen. Auf Drängen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank strebt er jetzt eine Mehrwertsteuererhöhung und „Strukturanpassungsprogramme“ an, die auf breiten Widerstand im Land stoßen. Womöglich hat er sich durch den „Verrat“ – wie es Rafael Correa nennt – an Assange Unterstützung aus Washington versprochen. Von seinem Heimatland Australien kann Assange keine Unterstützung erwarten. Dort ist zur Zeit ein Geheimprozess gegen zwei Whistleblower im Gang, die Kabinettspläne enthüllt haben, wie das arme Ost-Timor von Australien um seinen Anteil an den Öl- und Gasvorkommen in der Timor-See geprellt werden kann.

Die Aussichten für den blassen Mann in der Londoner Zelle sind düster.

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"Hetzjagd auf Whistleblower", UZ vom 18. April 2019



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