Doris Gerckes neuer Roman „Wo es wehtut“

Im Dickicht von Kiew

Von Eva Petermann

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Doris Gercke: Wo es wehtut. Haymon-Verlag Innsbruck-Wien 2016. 311 S., 15,90 Euro

Wie von der Hamburger Krimi-Autorin Doris Gercke nicht anders zu erwarten, platziert sie auch die Handlung ihres neuen Buchs mitten hinein in die neuralgischen Punkte, in die politischen Geschwüre unserer Zeit.

Gegen Ende des fieberhaften Jeder-gegen-Jeden liegen zwei in Plastik verschnürte Leichen im Gebüsch des Hydro-Parks. Mainstream-Medien wissen zu berichten, dass wohl auch diesen „unerhört grausamen Anschlag“ der russische Geheimdienst auf dem Gewissen hat. Jedoch auch von anderen Leichen und von Agenten wimmelt es nur so in der ukrainischen Hauptstadt. Zwei davon kennen Gercke-Fans bereits aus den beiden Bänden „Milenas Verlangen“ und „Beringers Auftrag“, 2002 bzw. 2003 unter Gerckes Pseudonym Marie-Jo Morell veröffentlicht.

Nach mehr als zehn Jahren hat der österreichische Haymon-Verlag alle drei Bücher neu herausgebracht. Nun führt die Schöpferin der „Bella-Block“-Krimis die beiden früheren Protagonisten wieder zusammen, ins gewaltgeschüttelte Kiew. Dort sollen sie – jeder für sich – irgendwie die „deutschen Interessen“ wahren.

Milena, jetzt Eva Kohàcs, residiert als Chefin in einem stark frequentierten Edelbordell, quasi der BND-Zentrale. Dessen Personal muss als Zweitqualifikation vor allem sehr offene Ohren für die prominenten Kunden haben.

Beringer operiert von einem Hotel aus, in dem rein zufällig auch ein „Humanitärer“ namens Bill wohnt, Leiter eines Heims für Waisenkinder. In der US-Botschaft geht er aus und ein. Ansonsten geben sich dort außer Agenten des CIA und befreundeter Dienste finstere Schlägertypen vom „Rechten Sektor“ und diverse mehr oder weniger obskure Politiker wie „der Boxer“ und „das Kaninchen“ die Klinke in die Hand. Darunter mischt sich die Schar wohlfeiler Journalisten und Schriftsteller mit ihrem „Freedom-and-democracy“-Gedöns, gesponsert von internationalen Stiftungen. Auch der charmante Bill bezieht sein Gehalt von solch einem Geldgeber. Abgesehen von Kurt, einem ekligen Deutschen, hat er kaum Freunde.

Was Milena/Eva mit ihm verbindet, kann Beringer nicht gefallen. Der einstige Star-Ermittler hat den Kiewer Auftrag vor allem ihretwegen angenommen. Die gemeinsame Vergangenheit mit ihr und Ziehsohn Ronny, dem Edward-Snowden-Verehrer, lässt ihn nicht los.

Leider ist die wildmähnige Schöne nicht mehr dieselbe – eine gescheiterte Suchende wie viele von Gerckes Figuren, zerrissen von Begierden und Irrwegen, sich selbst entfremdet. Umso praktischer für den Geheimdienst. Infolge der gesteigerten Weltmachtambitionen der BRD muss das Personal an den globalen Krisen-Hotspots aufgestockt werden. Amtshilfe leistet dabei das BKA. Trotzdem fehlt es erkennbar an geeigneten Bewerbern, ganz zu schweigen von Kompetenz und klaren Vorgaben. Obendrein traut keiner dem anderen über den Weg. Wie es sich für einen anständigen Agenten-Thriller ja auch gehört.

Zu zackig ist das Auftreten der BKA-Frau Klein, alias Dr. Kurz, was ihr trotz Respekt heischendem blauen Schlapphut nicht gut bekommt. Angewidert von den Wiesbadener Unappetitlichkeiten rund um den Untersuchungsausschuss zum Nazi-Terror-NSU, erhofft sie sich Karrierechancen im neuen Einsatzgebiet. Sie soll dieser Eva Kohàcs auf den Zahn fühlen: Ist die etwa insgeheim für den russischen Geheimdienst unterwegs?

Versteht sich, dass dieser keineswegs untätig ist. Welche Rolle spielt da Wadim, ein enger Freund Beringers aus alten Kaliningrader Zeiten? Ein Mysterium umgibt diesen Kriminalisten mit echtem Berufsethos. Und welche Bewandnis hat es mit der Hilfsbereitschaft einiger russischsprachiger Zufallsbegegnungen wie dem alten Einsiedler im Kiewer Bahnhof?

Irgendwelche Aufrechte muss es doch geben in diesem Morast, die ernsthaft eingreifen und künftige Untaten verhindern wollen! Andeutungen verdichten sich, dass eine besonders unerhörte Grausamkeit ausgeheckt wird. Doch von wem und wo?

Seit dem Scharfschützenangriff auf den Maidan sind freilich Anschläge an der Tagesordnung: Schüsse auf Passanten aus vorbeifahrenden Autos oder Morde rivalisierender Vasallen der jeweiligen Oligarchen. Menschen verschwinden, insbesondere lästige Zeugen, politische Gegner oder demonstrierende Mütter, die sich der Zwangsrekrutierung ihrer Söhne entgegenstellen.

Doris Gercke zeigt uns auch das „andere“ Kiew: eine moderne europäische Metropole – mit Verliebten und Bettelarmen, mit Familien und Kriegsveteranen. Die streben am Wochenende ins Freie, um sich nahe der „Tochter Breshnews“ auf der Wiese gemütlich auszubreiten.

Sie wie auch andere Arglose geraten unweigerlich zwischen die Fronten. Alle kann es treffen, auch die, bei denen es besonders wehtut: die Kinder. Niemand warnt die blondbezopften Mädchen bei ihrem Folklore-Auftritt zu Ehren des „Kaninchens“, des Polit-Aufsteigers. Die schwülstige Heimatkulisse aus Strohballen und Kornblumen, kitschig „wie in einem historischen Kostümfilm“ zerreißt der Schrecken. Während von fern überlebensgroß die Monumente von „Mutter Heimat“ und Babyn Jar ihre Schatten in die Stadt werfen – Menetekel des Großen Vaterländischen Krieges.

Doris Gercke fügt die kapitelweisen Berichte ihrer Protagonisten aus Kaliningrad, Kiew und Wiesbaden, aus Moskau und Hamburg zu einer wirbelnden Gleichzeitigkeit zusammen. Die Autorin kennt diese Städte und ihre Menschen, mit ihren Wünschen und Illusionen, ihrer Gier nach Geld und Aufstieg, ihren Selbstzweifeln und ihrer Selbstüberschätzung.

Gerckes besondere Zuwendung als Autorin gilt Milena/Eva, der einzigen Ich-Erzählerin im Buch. Kann es für diese abgebrühte, nach wie vor lebenshungrige Frau einen Neuanfang geben? Wäre nicht auch Beringer, der selbst ernannte Romantiker, bereit auszusteigen?

Doris Gercke, verschmitzte Meisterin des Understatements, zeichnet ihre Figuren lapidar und treffend, gewürzt mit einer saftigen Prise weiblicher Boshaftigkeit. Dabei scheut sie auch nicht vor dem einen oder anderen Kalauer zurück, als augenzwinkernden Tribut ans Agententhriller-Genre.

In ihrem vielschichtigen Werk verknüpft sie mit kühler Hand Handlungsstränge und jede Menge Anspielungen, nicht zuletzt literarischer Art. Da geben sich Brecht und Marcel Proust, Tschechow und der in Kiew gebürtige Michail Bulgakow die Ehre und viele andere.

Ein packender Thriller – und viel mehr als das.

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"Im Dickicht von Kiew", UZ vom 14. Oktober 2016



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