Militarisierung findet auch künftig im Rahmen der NATO statt 

Imperialistische Widersprüche in der EU

Von Beate Landefeld

Der Aufsatz ist die Kurzfassung eines Referats, das auf dem Seminar „Zwischenimperialistische Widersprüche“ der Marx-Engels-Stiftung am 29.10.2016 in Marburg gehalten wurde.

Die Autorin ist Redaktionsmitglied der „Marxistischen Blätter“.

Als die „Handvoll Großmächte, die die Welt beherrschen“ beschrieb Lenin 1916 die „alten“ kapitalistischen Länder England und Frankreich, die „jungen“ Deutschland, USA, Japan, das rückständige Russland, abhängig von britischen und französischen Banken. 1945, nach zwei Weltkriegen, lag der als Kolonialmacht zu spät und zu kurz gekommene, daher besonders aggressive deutsche Imperialismus am Boden. Die USA produzierten die Hälfte des Welt-BIP. Die Sowjetunion hatte massiv an Einfluss und Autorität gewonnen. Das Kolonialsystem befand sich im Zusammenbruch. Unter diesen Kräfteverhältnissen wurde die Frage, wie der deutsche Imperialismus unten zu halten sei, für die westliche Führungsmacht zweitrangig. Sie begann den Kalten Krieg. Die zwischenimperialistischen Widersprüche in Europa wurden durch die bipolare Systemkonkurrenz determiniert.

Die USA setzten Regeln im kapitalistischen Weltsystem, schufen Gremien, wie IWF und Weltbank, und drängten auf die Einigung Westeuropas als Teil der Blockbildung gegen den Sozialismus. Sie forcierten Deutschlands Remilitarisierung und NATO-Eingliederung. Der deutschen Bourgeoisie halfen sie, ihre Klassenmacht zu restaurieren. Die Kooperation und Konkurrenz von Frankreich und Deutschland trieb wichtige Schritte zur Vereinigung Westeuropas an. Mit der Montanunion 1951 wollte Frankreich die deutsche Schwerindustrie zügeln. Das deutsche Monopolkapital stieg damit aus dem Ruhr-Besatzungsstatut aus. Deutschlands NATO-Mitgliedschaft wollte Frankreichs Ministerpräsident René Pleven mit der „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ zuvorkommen, was am französischen Parlament scheiterte. Mit der Bildung der Europäischen Wirtschafts- und Atomgemeinschaft 1957 reagierten Frankreich, Deutschland, Italien und die Benelux-Länder auch auf die USA, die sich während der Suezkrise und des Ungarnaufstands über England, Frankreich und Deutschland hinweg mit der UdSSR verständigt hatten. Während die Briten sich seitdem noch enger an die USA anlehnten, machte sich Frankreich für den Aufbau autonomer europäischer militärischer Fähigkeiten stark, die die US-Politik beeinflussen könnten.

Kräfteverschiebung

Die britische Bourgeoisie wollte Freihandel, aber nie eine politische Vereinigung. Sie gab ihren starken Verbindungen nach Nordamerika und in das einstige britische Kolonialreich den Vorrang. Von 1960 bis 1973 führte Großbritannien in Konkurrenz zur EWG die European Free Trade Association (EFTA) an, mit Norwegen, Schweden, Dänemark, Österreich, der Schweiz, Portugal, Finnland, Island und Liechtenstein. 1973 wechselten Großbritannien und Dänemark zur EU. Eine kleine EFTA unter Führung der Schweiz blieb übrig. In den 1980ern traten Griechenland, Spanien und Portugal der EWG bei. Der 1957 vereinbarte Binnenmarkt wurde in den 1980ern „vollendet“, als die Bourgeoisien Großbritanniens und der USA bereits Kurs auf den Neoliberalismus nahmen. Erleichterte Fusionen und Übernahmen stärkten die EWG-Konzerne für die „amerikanische und japanische Herausforderung“. Opfer des Binnenmarkts waren primär Konzerne der kleineren Länder, Profiteure die starken und gut vernetzten Konzerne der großen Länder. 1992 stellten Deutschland und Frankreich knapp zwei Drittel der 100 größten Konzerne Europas.

Nach 1989 kam es durch die Einverleibung der DDR und den Zusammenbruch des Sozialismus zu einer bedeutenden Kräfteverschiebung zugunsten des deutschen Imperialismus. Die BRD wurde mit Abstand bevölkerungsreichstes Land der EWG. Geografisch nahm sie die Zentralposition in Europa ein. Handelsbeziehungen zu Osteuropa besaß sie schon. Nun eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten der Ostexpansion. Frankreichs Präsident Mitterrand äußerte die Befürchtung, das starke Deutschland werde sich ganz nach Osten orientieren. Er und die britische Premierministerin Thatcher begegneten der deutschen Einigung mit Skepsis, mussten ihr aber machtlos zusehen, da George Bush und Gorbatschow dafür waren. Zur gleichen Zeit liefen Verhandlungen über die Einführung des Euro. Teile der deutschen Bourgeoisie behaupten, Mitterrand habe als Bedingung für Frankreichs Zustimmung zur deutschen Einheit auf die beschleunigte Einführung des Euro gedrängt. Der euroskeptische Teil der deutschen Bourgeoisie beschwor schon damals das Gespenst der „über ihre Verhältnisse lebenden Südländer“. Ihn beruhigte Theo Waigel mit dem „Stabilitätspakt“: Euro-Länder müssen die jährliche Neuverschuldung unter 3 Prozent und den Schuldenstand unter 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) halten. Bei Verfehlung drohen Sanktionen.

Die deutsche Regierung förderte den Zerfall Jugoslawiens und nahm am NATO-Krieg gegen das Land teil. Die USA trieben die NATO-Osterweiterung voran. Länder des „neuen Europa“ traten der NATO bei, beteiligten sich am Irakkrieg und wurden EU-Beitrittskandidaten. Im Zuge der Abwicklung des Sozialismus entstand im Osten eine gegenüber Kerneuropa ärmere Peripherie der EU. Seit der Euro-Krise wurde auch Südeuropa abgehängt.

Ungleiche Entwicklung

Die Spaltung in Kern und Peripherie vertiefte sich und bedroht heute den Euro. Das ökonomisch dominierende Deutschland nutzte die Krise, um zentrale Kontrollmechanismen und Durchgriffsrechte gegen Schuldnerländer zu etablieren. Die Schuldenbedienung wird durch den „European Stabilitay Mechanism ESM“ organisiert. Die Europäische Zentralbank (EZB) federt deflationäre Folgen der Austeritätspolitik ab. Dieser unpopuläre Kurs war in einigen Ländern nur durchsetzbar, indem die Demokratie ausgehebelt wurde.

Die europäischen Großmächte brachten unterschiedliche, historisch gewachsene Interessenlagen in das Westeuropa-Projekt ein. Kapitalismus ist nicht gleich Kapitalismus. Die Art und Weise, wie er sich formiert, variiert von Land zu Land. Geografische Bedingungen, kulturelle und politische Traditionen, die Stellung des Landes in der internationalen Arbeitsteilung, Unterschiede in den Klassenverhältnissen und in den Kräfteverhältnissen im Klassenkampf spielen bei den Formierungsprozessen eine Rolle. So hat in Großbritannien der Finanzsektor traditionell eine weitaus größere Bedeutung als in Deutschland oder Frankreich. Gründe liegen in der einstigen Rolle des Königreichs als Kolonialmacht. Marx beschreibt im „Kapital“ das Kolonialsystem „mit seinem Seehandel und Handelskriegen“ als „Treibhaus für das System der öffentlichen Schulden“, das „eine Klasse müßiger Rentner“, Aktiengesellschaften und „das Börsenspiel“ hervorbrachte. Schon vor dem Ende des 19. Jahrhunderts galt Großbritannien als „Rentnerstaat“.

Mit Blick auf Frankreich und Deutschland unterschied die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (SMK) zwischen einer etatistischen und einer privatmonopolistischen Variante des SMK. In Frankreich gibt es die „Planification“, eine aktive Industriepolitik und Lenkungsrolle des Staates in der Wirtschaft. Die Austauschbarkeit von ökonomischen und politischen Eliten ist hoch. Staatsbeteiligungen an Großkonzernen im Energie-, Rüstungs-, Logistik-, Kfz- und Verkehrssektor sind üblich. Die Arbeiterklasse ist kämpferisch, so dass der neoliberale Umbau verzögert wurde und Frankreich in der Konkurrenz an Boden verlor. Deutschlands Besonderheit ist seine extreme Exportorientierung. Seit 1951 erzielt die Bundesrepublik Exportüberschüsse, denen Defizite fast aller Abnehmerländer gegenüber stehen. (Nach Regionen verteilten sich die deutschen Ausfuhren 2015 wie folgt: Eurozone 36,6 %; Rest-EU 21,4 %; USA 10 %, China 7 %, alle BRICS zusammen 10 %.) Deutschland wurde zum Gläubigerstaat Europas. Flankiert wird die Exportorientierung von der „Stabilitätspolitik“, die auf Löhne und Sozialkosten drückt. Als Standortvorteile gelten „Sozialpartnerschaft“ und „Wettbewerbskorporatismus“ (Unterordnung des Gesamtinteresses der Arbeiterklasse unter das Interesse der Firma oder des Standorts). Frankreich, Großbritannien, Italien, USA und IWF prangern die deutschen Exportüberschüsse seit langem an. Die deutschen Regierungen sehen darin ein Erfolgsmodell.

Teil der historisch herausgebildeten Konstellationen sind Bündnistraditionen. Großbritannien und Frankreich waren im Kampf um Kolonien lange Rivalen, verständigten sich aber um 1900 gegen das zu spät gekommene, nach Neuaufteilung drängende Deutschland. Die „Entente cordiale“, die bis 1918 dauerte, wird bei Bedarf erneuert. 2010 schlossen beide Länder einen Vertrag zur Rüstungs- und Militärkooperation. Beide waren treibende Kräfte des Angriffs auf Libyen 2011. Den Militärschlag gegen Libyen interpretierte Frankreichs damaliger Außenminister Alain Juppé als Ausdruck einer „variablen politischen Geometrie der EU“: Bei der Wirtschaftspolitik spielten die Länder der Eurozone die wichtigste Rolle, bei der Verteidigungspolitik zeichnete sich eine „französisch-britische Achse“ ab. Beide Länder sind im Ergebnis des zweiten Weltkriegs ständige Mitglieder im UN-Sicherheitsrat und haben nicht vor, diese Position zugunsten der EU oder gar zugunsten Deutschlands zu räumen.

Lenin zeigte, dass die „allgemeinwirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Stärke“ der Länder die Basis für Abkommen zwischen ihnen ist. Stärkeverhältnisse verändern sich, „denn eine gleichmäßige Entwicklung der einzelnen Unternehmungen, Trusts, Industriezweige und Länder kann es unter dem Kapitalismus nicht geben“. Die Abhängigkeit der Länder von der Entwicklung der Großunternehmen hat sich seither potenziert. Ein Drittel des Welthandels ist Intrakonzernhandel. 80 Prozent spielt sich innerhalb globaler Wertschöpfungsketten ab. Ein Land bessert seine Handelsbilanz, indem es seine Konzerne befähigt, in globalen Wertschöpfungsketten, die meist von Konzernen reicher Länder geführt werden, aufzusteigen, oder indem es Auslandsfirmen animiert, vor Ort Filialen zu gründen. Die die Weltwirtschaft bestimmenden Transnationalen Konzerne kommen aus wenigen Ländern. 289 der 500 weltweit Größten kamen 2016 allein aus der G7. Von 1980 bis 2016 sank der US-Anteil von 217 auf 135, zugleich stieg der Anteil Chinas von 0 auf 102. Japans Anteil sinkt seit den 1990ern. Europa (EU plus Schweiz und Norwegen) war 2008 mit 179 dabei, heute mit 140.

EU in Afrika und

Osteuropa „gefordert“

Die Widersprüche und Spaltungen der heutigen EU sind in ein internationales Kräfteverhältnis eingebettet, das durch den allmählichen ökonomischen Abstieg der USA und den Übergang zu einer multipolaren Weltordnung charakterisiert ist. Heute stellen USA und EU zusammen die Hälfte des Welt-BIP, 1945 die USA allein. Wichtigste Stärke von USA und NATO ist heute ihre militärische Überlegenheit. Sie kommt im Zuge einer Politik der Eindämmung und Einkreisung aufsteigender Mächte zum Einsatz. 2011 rief die US-Regierung „Amerikas Pazifisches Jahrhundert“ aus. Das hieß auch, dass die EU in Afrika und Osteuropa „stärker gefordert“ sei. Daher führte Außenminister Westerwelles Enthaltung beim Libyenkrieg zu heftiger Kritik in Medien und Thinktanks, die vor einem „deutschen Sonderweg“ warnten. 2013 forderte die Studie „Neue Macht – neue Verantwortung“ eine deutlich aggressivere deutsche Außenpolitik. Sie wurde, an der Seite der USA, in der Ukraine umgehend praktiziert. Laut Studie sollen „bewährte Partnerschaften Vorrang haben vor den Beziehungen zu den aufsteigenden Mächten“. Deutschland müsse Mächte wie Russland einbinden „oder sie einhegen, indem es sie in ihrem Handlungsspielraum einengt“. Die NATO sei „einzigartiger Kräfteverstärker für deutsche sicherheitspolitische Interessen“. (Neue Macht – Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch. Ein Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und des German Marshall Fund of the United States (GMF), 2013, S. 36, 45.) Russophobie und Russland-Sanktionen, die Bundeswehr an den EU-Ostgrenzen, stärkeres Engagement in Nahost und Afrika folgen dieser Strategie. Das TTIP soll Standards setzen, „die wir zusammen mit den USA heute noch prägen können,“ so Anton Börner, Chef des Bundesverbands für Groß- und Außenhandel. „Länder wie China oder Russland müssen von uns übernehmen, was fairer Wettbewerb und freies Handeln bedeutet, und nicht wir die Regeln ideologisch ausgerichteter Staaten und deren Gesellschaftsformen.“

Bei Obamas Abschiedsbesuch in Berlin appellierten er und Merkel für die Beibehaltung dieser Linie. Die Wahl Trumps wird genutzt, um die in der BRD anstehende massive Erhöhung der Rüstungsausgaben als „Festhalten an den Werten und Prinzipien des Westens“ zu verklären. Aktuell summieren sich die Rüstungsausgaben Britanniens mit 55,5 Mrd. Dollar, Frankreichs (51 Mrd.) und der BRD (40 Mrd.) auf etwa ein Viertel des US-Rüstungshaushalts (600 Mrd.). Die Bundesregierung will künftig auf die von der NATO geforderten 2 Prozent des BIP aufstocken. Angesichts Unsicherheit über den US-Kurs wird erneut „mehr europäische Autonomie“ gefordert. Doch sprechen die Interessenkonstellationen in Europa dafür, dass EU-Militarisierung auch künftig im Rahmen der NATO stattfinden wird. Nur so wären die Briten trotz Brexit weiter dabei. Nur mittels NATO lassen sich Polen und Balten einbinden. Schließlich braucht es den „europäischen Flügel der NATO“, um in Osteuropa und Afrika die USA zu entlasten, damit sie sich auf China konzentrieren können.

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Über die Autorin

Beate Landefeld (Jahrgang 1944) ist Hotelfachfrau und Autorin.

Landefeld studierte ab 1968 Literaturwissenschaft und Soziologie an der Universität Hamburg, war Vorsitzende des Allgemeinen Studentenausschusses, Mitbegründerin des MSB Spartakus. 1971-1990 war sie im Parteivorstand der DKP, 1977-1979 Bundesvorsitzende des MSB Spartakus, später auf Bezirks- und Bundesebene Funktionärin der DKP.

Landefeld ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter. 2017 veröffentlichte sie bei PapyRossa in der Reihe Basiswissen das Buch „Revolution“.

Für die UZ schreibt Landefeld eine monatliche Kolumne.

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"Imperialistische Widersprüche in der EU", UZ vom 9. Dezember 2016



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