10.000 Jahre Tradition, sozialistisches Erbe und neoliberale Boom-Towns

Indien – Subkontinent im Aufbruch

Indien und China sind hinsichtlich ihrer Bevölkerungszahl – jeweils 1,4 Milliarden Menschen – und ihres ökonomischen Potenzials die großen Schwergewichte der BRICS-Staaten. Beide Länder haben eine lange Geschichte. Vor nahezu 10.000 Jahren entwickelten sich in den fruchtbaren Gebieten entlang der großen Flüsse neolithische Hochkulturen. In der Zeit, als der Makedonier Alexander der Große bis zu den Quellflüssen des Indus im Punjab vordrang (326 v.  u.  Z.), gelang die Gründung des Maurya-Imperiums, des ersten Großreiches auf dem indischen Subkontinent. In der frühen Kulturregion des Indus-Tales bildete sich der Hinduismus, die verbreitetste Religion Indiens, heraus. Seine Wurzeln reichen 5.000 Jahre zurück – er ist damit eine der ältesten Religionen der Welt. Indiens Hochkultur des „Klassischen Zeitalters“ (2. Jahrhundert v.  u.  Z. bis 6. Jahrhundert u.  Z.) bereicherte die Menschheit mit großen Erkenntnissen im Bereich der Wissenschaft.

Die indische und die chinesische Ökonomie gehörten weit über 1.000 Jahre zu den weltweit bedeutendsten mit jeweils 30 bis 40 Prozent der globalen Wirtschaftskraft. Seit etwa 100 Jahren v. u. Z. bis 1450 verband die Alte Seidenstraße China und Indien mit Europa und ermöglichte schon den Römern, Griechen, Ägyptern und Persern den Handel mit Gewürzen, Tee, Seide, Farben, Parfüms, Pelzen, Porzellan, Edelsteinen, Gold, Silber und ähnlichen Luxusartikeln. Die bedeutendsten Knotenpunkte dieser transkontinentalen Handelsstraße lagen in Zentralasien, ebendort, wo sich heute die großen Infrastrukturprojekte der Neuen Seidenstraße (BRI) und des Internationalen Nord-Süd-Transportkorridors (INSTC) kreuzen und verknüpfen. BRI verbindet China mit West- und Südwesteurasien, INSTC das indische Mumbai mit Moskau und St. Petersburg. Und klar, diese Region ist von zentralem ökonomischen und geopolitischen Interesse – für Indien, China, Iran und Russland. Aber natürlich auch, mit quasi umgekehrten Vorzeichen, für die Weltmachtansprüche des US-Imperiums.

Die staatlich sanktionierten See- und Landräuber der Britischen Ostindien-Kompanie setzten sich im 17. Jahrhundert immer weiter in dem von den Großmoguln beherrschten Indien fest. Nach dem Sieg in der Schlacht von Palashi im Jahr 1757 begann die Ostindien-Kompanie mit Krieg und Betrug ihre Herrschaft über den Subkontinent sukzessive auszudehnen. 1876 wurde die britische Königin Victoria zur Kaiserin von Indien gekrönt. Die uralte Geschichte der indischen Souveränität, Kultur und Prosperität war zu Ende.

Über die Opferzahlen und die ökonomischen Auswirkungen des britischen Kolonialismus gibt es unterschiedliche Zahlen. Eine detaillierte Untersuchung von Jason Hickel und Dylan Sullivan kommt zu dem Ergebnis, dass Kriege, Hungerkatastrophen und Verelendung infolge der britischen Kolonialpolitik allein in Indien zwischen 1880 und 1920 über 100 Millionen zusätzliche Todesopfer verursacht haben. In den fast 200 Jahren ihrer Herrschaft über Indien hätten die Briten Vermögenswerte im Wert von 45 Billionen US-Dollar geraubt. Der Anteil Indiens an der globalen Industrieproduktion sank von 25 Prozent im Jahr 1750 auf 2 Prozent im Jahr 1900. Die Industrielle Revolution, die britische Flotte und der obszöne Luxus der britischen Oberschicht wurden mit dem Blut, der Sklavenarbeit und dem Reichtum der Kolonien Britanniens bezahlt. Das gleiche Muster gilt heute für das neokoloniale US-Imperium.

Am 15. August 1947 setzte die indische Befreiungsbewegung dem „British Raj“ – dem britischen Kolonialreich –, das von Belutschistan bis Burma reichte und das Himalaja-Gebiet Kaschmir sowie die Vasallenstaaten Nepal und Bhutan einschloss, ein Ende. Britannien hatte in den Weltkriegen zwar (mit)gesiegt, war aber völlig ruiniert. Die alten Kolonialmächte waren nicht mehr in der Lage, ihre Kolonialreiche unter Kontrolle zu halten und sanken zu Vasallen des US-Imperiums herab. Allerdings gehörte die folgende, von den Briten mit dem „Mountbattenplan“ gesponserte Sezessionsbewegung zu den blutigsten Kapiteln des Befreiungskampfes. Der aus der Aufteilung Britisch-Indiens in zwei Nachfolgestaaten – die Indische Union und Pakistan – resultierende sinnlose Konflikt, der mehr als eine Million Menschen das Leben kostete, mehr als 10 Millionen zu Flüchtlingen machte und zwei verfeindete Atommächte erschuf, ist ohne den Kalten Krieg nicht zu denken. West- und Ostpakistan, ab 1971 Bangladesch, wurden vom Westen gegen das mit der Sowjetunion befreundete Indien in Stellung gebracht. Die hinterhältigen Regelungen des britischen Unabhängigkeitsgesetzes von 1947 befeuerten den Nationalismus entlang der religiösen und ethnischen Linien und machten darüber hinaus die Kaschmirfrage zu einem Dauerkonflikt.

Die Unterstützung der Befreiungsbewegungen hatte der Sowjetunion zu großem Ansehen in den Ländern des Globalen Südens verholfen – so auch in Indien. Der Indische Nationalkongress, die Partei Mahatma Ghandis und Jawaharlal Nehrus, verfolgte nach 1947 eine sozialistische Strategie mit Fünfjahresplänen, einer Planungskommission und einer gemischten Wirtschaft mit erheblichen Staatsanteilen. Mit dem Niedergang und Zusammenbruch der Sowjetunion geriet diese Wirtschaftspolitik auch in Indien in Schwierigkeiten. Die folgende Öffnung Indiens für das internationale Finanzkapital erzwang eine weitgehende, „Liberalisierung“ genannte asoziale Zurichtung des Staates und der Wirtschaft für die Rentenansprüche der Wall Street und der Londoner City.

Die sozialökonomischen, infrastrukturellen und gesellschaftlichen Konsequenzen der neoliberalen Gegenreformation erzeugen – vor allem dort, wo die ehemals reformistischen Parteien zu Frontkämpfern des Neoliberalismus herabgesunken sind – einen enormen Spielraum für rechtspopulistische Kräfte – in Indien für die hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) von Narendra Modi. Modi ist seit Mai 2014 indischer Ministerpräsident. Er verfolgt eine ausgesprochen wetterwendische Außenpolitik, welche das Prestige und das strategische Gewicht Indiens einsetzt, um überall, wo es geht, seine Vorteile abzugreifen. So hat Modi Indien in die US-dominierten, militant antichinesischen Bündnisse QUAD und AUKUS gebracht und ist gleichzeitig dabei, die einträglichen Beziehungen zu Russland und anderen Staaten des BRICS-Verbunds zu stärken. Ebenso hat Modi im Juni 2023, bei seinem Besuch in Washington, einem weitreichenden Abkommen zugestimmt, das unter anderem den Bau eines US-Marinestützpunktes auf indischem Boden und den Kauf von MQ-9B-SeaGuardian-Drohnen beinhaltet. Beteiligte US-Offizielle sprachen von der „Entwicklung einer US-indischen Verteidigungsgemeinschaft“. Überdies gibt es Berichte, dass Indien auf Wunsch Frankreichs die Aufnahme von Algerien in die BRICS-Gruppe blockierte. Außerdem lehnt Indien – trotz der dadurch realisierbaren massiven ökonomischen Vorteile – eine Teilnahme an BRI-Projekten ab. Hinzu kommen die Grenzstreitigkeiten mit China, bei denen es um einige Quadratkilometer in einem unbewohnten Gebiet im Himalaja geht.

So wichtig Indien für die BRICS-Entwicklung ist, so bleibt Modi-Indien zu einem gewissen Grad immer ein Unsicherheitsfaktor, der letztlich von seinen taktischen Wendungen gesteuert wird.


Der Kampf um Unabhängigkeit und gegen neoliberale Ausbeutung
Der Kampf der indischen Arbeiter und Bauern gegen die Kolonialherrschaft einerseits und nach 1991 zunehmend auch gegen die eigene Kompradoren­oligarchie hat eine lange Geschichte. Der große Indische Aufstand (1857 bis 1859) gegen die Herrschaft der räuberischen Britischen Ostindien-Kompanie war der erste im langen Kampf um Indiens Unabhängigkeit. Lakshmibai, die Rani von Jhansi (Rani: Sanskrit für Königin, Fürstin), wurde eine der engagiertesten Führerinnen des Aufstands und zählt bis heute zu den verehrten indischen Heldinnen. Die britische Kolonialmacht rächte sich auf ihre Art. Die Bilder von vor Kanonen gespannten und zerfetzten Aufständischen gingen um die Welt. Bis eine Million Tote sollen die Niederschlagung des Aufstands und sich anschließende Repressionen gefordert haben. Allerdings wurde die Ostindien-Kompanie durch Kolonialbeamte der britischen Regierung ersetzt. Queen Victoria versprach Verfassungsrechte und die Gleichstellung mit britischen Bürgern.
Für die britischen Imperialisten blieb Indien das Kronjuwel, verkörpert durch den Koh-i-Noor (persisch: Berg des Lichts), den berühmtesten und größten geschliffenen Diamanten der Welt, den die Ostindien-Kompanie für die Krone Victorias aus Indien raubte.
So musste die indische Befreiungsbewegung einen 90-jährigen blutigen Kampf gegen ihre britischen Unterdrücker ausfechten, welche Inder dazu noch als Kanonenfutter im Ersten und Zweiten Weltkrieg und in zahlreichen ihrer permanenten Kolonialkriege als Repressionsarmee einsetzten.


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"Indien – Subkontinent im Aufbruch", UZ vom 8. September 2023



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