Wenn der deutsche Bundeskanzler vor den Vereinten Nationen spricht, geht keiner hin. Die Rest-Außenpolitik erledigt Baerbock

Kein Bock auf Kriegspropaganda

Selbst „Bild“ konnte es sich nicht verkneifen, den Auftritt von Olaf Scholz vor der UN-Vollversammlung am 19. September zwei Tage später mit einem großen Foto vom spärlich besetzten Haus zu illustrieren. Schlagzeile: „Scholz auf der UN-(Voll)-Leerversammlung.“ Es habe „Handygedaddel, Halbschlaf, lichte Reihen“ gegeben, ob denn niemanden interessiere, was „unser Kanzler“ zu sagen habe? „Bild“-Trost: „Immerhin Außenministerin Annalena Baerbock (42, Grüne) lauscht dem Kanzler aufmerksam.“ Baerbock zählt möglicherweise als „niemand“.

Überraschend wärs nicht. Die Grüne nutzte ihre Auftrittsgelegenheiten bei den UN, um zum Beispiel zu verkünden: „Und ja, ich bin stolz, dass Deutschland jetzt eine feministische Außenpolitik hat, aber ganz ehrlich, das war überhaupt nicht einfach.“ Entsprechend waren die Höhepunkte ihrer USA-Reise: Treffen mit dem faschistoiden Texas-Gouverneur und Abtreibungsgegner Gregory Abbott, Interview mit dem unter woken Leuten eigentlich als „Trump-Sender“ verschrienen „Fox“, Beleidigung des chinesischen Präsidenten inklusive. Pekings Außenministerium hielt das für eine „offene politische Provokation“. Immerhin gab es Aufmerksamkeit. Am 20. September schließlich ließ sich Baerbock in die ARD-Sendung „Maischberger“ schalten und sprach ähnlich offenherzig wie im Januar beim Europarat: „Es geht eben bei diesem Russland-Krieg auch darum, ein Signal an andere Länder, andere Regime in der Welt zu senden.“ Das nahm, anders als vor acht Monaten, kaum jemand zur Kenntnis.

Das Desinteresse für Scholz entsprach solcher Null-Diplomatie. Seine einzige außenpolitische Ambition laut Rede ist: Musterknabe der USA zu sein und mit dem Geldsack zu winken. Denn „wir“ sind, verkündete er mit Blick auf die UN, „zweitgrößter Geber nach den Vereinigten Staaten.“ Und: „Wir“ haben zur internationalen Klimafinanzierung im vergangenen Jahr sechs Milliarden US-Dollar beigetragen – wollen die aber wieder reinbekommen. Scholz: „Als starkes Technologieland bieten wir an, hier zum gemeinsamen Wohl zusammenzuarbeiten.“ Wenn es mit dem Wirtschaftswunder im eigenen Land nicht klappt, soll einfach die restliche Welt einspringen.

Auf dem Weg zum globalen Wohl mit deutsch-grüner Technik gab Scholz die Devise aus: „Multipolarität ist keine neue Ordnung“ und „keine normative Kategorie“. Denn: „BRICS oder andere Gruppen“ repräsentieren nicht alle.

Das hatte am Vortag Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva als erster Redner der Generaldebatte vor vollem Haus anders gesehen: „Wenn Institutionen Ungleichheiten reproduzieren, sind sie Teil des Problems, nicht der Lösung. Im vergangenen Jahr stellte der Internationale Währungsfonds den europäischen Ländern Sonderziehungsrechte im Wert von 160 Milliarden Dollar zur Verfügung, den afrikanischen Ländern dagegen nur 34 Milliarden Dollar. Fast alle von afrikanischen Ländern erwirtschafteten Einnahmen müssen für den Schuldendienst im Ausland verwendet werden.“ Die BRICS seien „das Ergebnis dieser Lähmung“ und stellten eine strategische Plattform zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Schwellenländern dar. Das Erbe des Neoliberalismus sei „eine Masse von entrechteten und ausgeschlossenen Menschen“.

Besucht Baerbock extrem Rechte in den USA oder Scholz die Vereinten Nationen, kommt das nicht vor. Menschen sind keine Priorität feministischer Außenpolitik.

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"Kein Bock auf Kriegspropaganda", UZ vom 29. September 2023



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