Bilanz nach 160 Tagen Gaza-Krieg veröffentlicht – Deutschland unterstützt Völkermord weiter

Grauen ohne Ende

Wieder hat Israel gezielt das Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt angegriffen, wieder erfolgte der Beschuss aus Panzern und Flugzeugen, wieder gab es Dutzende Tote und Verletzte zu beklagen. Augenzeugen berichten von willkürlich Festgenommenen, darunter Ärzte und medizinisches Personal, von Sanitätern, die sich im Kugelhagel Verletzten nicht nähern konnten. Das, was die israelische Armee als „präzise Operation“ bezeichnete, mit der sie führende Köpfe der Hamas ausschalten wolle, war ein weiterer Schlag, der „auf die Zerstörung des Gesundheitswesens im Gazastreifen abzielt“, wie das palästinensische Gesundheitswesen mitteilte. Im Al-Schifa-Krankenhaus werden zur Zeit 3.000 Patienten behandelt, rund 30.000 Inlandsvertriebene haben dort zusätzlich Schutz gesucht. Sie alle wurden von der Armee aufgefordert, die Klinik und anliegende Stadtviertel zu evakuieren und Richtung Westen zu fliehen. Dort liegt nach ungefähr einem Kilometer das Mittelmeer.

Der erneute Angriff auf das Al-Schifa-Krankenhaus ist nur ein weiterer trauriger Höhepunkt des Völkermords in Gaza: Mehr als 40.000 Tote, davon 36.330 Zivilpersonen, 14.861 Kinder, 9.273 Frauen bilanziert der „Euro-Med Human Rights Monitor“ nach 160 Tagen Krieg gegen Gaza. 74.400 Verletzte, zwei Millionen Vertriebene, 112.000 völlig zerstörte, 256.100 stark beschädigte Wohngebäude, 2.131 zerstörte Betriebe, 634 zerstörte Moscheen, drei zerstörte Kirchen, 200 zerstörte Stätten des Kulturerbes, 175 zerstörte oder stark beschädigte Medienbüros und 134 bei ihrer Berufsausübung getötete Journalisten. Die Liste ist zu lang, um sie hier komplett wiedergeben zu können.

Zudem steht eine Hungersnot in Gaza unmittelbar bevor. Im Norden werde diese nach einem am Montag von Integrated Food Security Phase Classification (IPC) veröffentlichten Bericht zwischen Mitte März und Mai eintreten, schon jetzt ist nach dem Bericht die Hälfte der Bevölkerung (rund 1,1 Millionen Menschen) in schlimmster Notlage. Praktisch alle Haushalte verzichten täglich auf Mahlzeiten, Erwachsene reduzieren ihren Lebensmittelkonsum zugunsten der Kinder. Schuld daran ist die ausbleibende humanitäre Hilfe. Die jetzt eingerichtete Luftbrücke, an der sich auch Deutschland beteiligt, kann den Bedarf nicht decken. Die Ladung eines Transportflugzeuges ersetzt noch nicht einmal die eines einzelnen Lkw. Zudem werden die Nahrungsmittel nicht mehr verteilt. Der Abwurf aus der Luft begünstigt damit eine ungerechte Verteilung.

„Vor dem Krieg war der Gazastreifen das größte Gefängnis unter freiem Himmel, heute ist er der größte Friedhof unter freiem Himmel“, stellte am Montag dieser Woche selbst der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell folgerichtig fest. Und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) behauptete in Jerusalem: „Wir können nicht zusehen, wie Palästinenser den Hungertod riskieren.“ Ein Ende der Waffenlieferungen an Israel kündigte er allerdings nicht an. Stattdessen betonte Scholz beim Pressetermin mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, Israel habe das Recht, „sich gegen den Terror der Hamas zu verteidigen“. Eine Erklärung dazu, wie Völkermord eine Verteidigung sein kann, blieb Scholz schuldig. Stattdessen bat er Netanjahu darum, „seine Strategie im Gazastreifen zu überdenken“.

Viel mehr als leise Bitten zur Mäßigung hat Israel nicht zu befürchten. Am Montag lehnten die Außenmister mehrerer EU-Staaten den Vorschlag Irlands und Spaniens ab, das Assoziierungsabkommen mit Israel auszusetzen. Schließlich, so die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), brauche man „Gesprächskanäle rund um die Uhr, damit wir endlich zu dieser so dringenden humanitären Feuerpause kommen“. Den Völkermord Israels nicht mehr aktiv zu unterstützen wäre ja auch zu einfach.

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Über die Autorin

Melina Deymann, geboren 1979, studierte Theaterwissenschaft und Anglistik und machte im Anschluss eine Ausbildung als Buchhändlerin. Dem Traumberuf machte der Aufstieg eines Online-Monopolisten ein jähes Ende. Der UZ kam es zugute.

Melina Deymann ist seit 2017 bei der Zeitung der DKP tätig, zuerst als Volontärin, heute als Redakteurin für internationale Politik und als Chefin vom Dienst. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bei der Arbeit für die „Position“, dem Magazin der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend.

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"Grauen ohne Ende", UZ vom 22. März 2024



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