Gesammelte Aufsätze von Peter Strutynski

Konsistentes Denken

Von Georg Fülberth Aus Marxistische Blätter 4_2018 (Vorabdruck)

konsistentes denken - Konsistentes Denken - Peter Strutynski, Politisches Buch, Rezensionen / Annotationen - Theorie & Geschichte

Peter Strutynski

Die Welt verändern … nicht nur interpretieren

Gesammelte Aufsätze

Hrsg. v. Erika Wittlinger-Strutynski und Franz Ritter

Kassel, Verlag Winfried Jenior 2017

Einer breiten friedenspolitisch orientierten Öffentlichkeit bleibt Peter Strutynski (1945–2015) als Mitgründer, Organisator und treibende Kraft des Kasseler Friedensforums sowie des bundesweiten „Friedensratschlags“, der seit 1994 alljährlich im Dezember stattfindet, in Erinnerung. Die Lücke, die sein Tod riss, ist vielfach spürbar, u. a. an folgendem Detail: Die von ihm betreute, ständig aktualisierte Homepage der Arbeitsgruppe Friedensforschung an der Universität Kassel, seitdem nicht mehr fortgesetzt, wird ständig vermisst. Sie ist nur noch als Archiv bis 2015 einsehbar, wird als solches weiterhin konsultiert und zeigt, wie viel seitdem fehlt. Der Friedensratschlag selbst bleibt und hat seine überregionale Bedeutung behalten.

Die friedenspolitische Arbeit von Peter Strutynski begann 1980 im Umfeld des Krefelder Appells und wurde in einer seltenen Kombination von Wissenschaft und operativem Handeln seitdem ständig vertieft.

Dabei war das in gewisser Weise schon sein zweites Leben. Voran ging seine Qualifizierung als Historischer Materialist. Seine Dissertation schrieb er 1976 in München über „Die Auseinandersetzungen zwischen Marxisten und Revisionisten in der deutschen Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende“. Er war und blieb in der DKP und wurde Mitherausgeber der „Marxistischen Blätter“. Die Besonderheit seines intellektuellen und politischen Profils bestand darin, dass er das, was er in seinen historisch-materialistischen Lehrjahren sich aneignete, weder nur wiederholte noch gar vergaß, sondern konkret und meist recht spezialisiert in praktischer Absicht auf Feldern, wo es bisher kaum oder noch gar nicht angewandt wurde, weiterentwickelte. Dies ist die Art Marxismus, die Zukunft haben kann.

Ein 2017 erschienener Band mit Aufsätzen Peter Strutynskis aus den Jahren 1993 bis 2014 belegt dies. Formal handelt es sich um eine Art Spätwerk. Die frühere Beschäftigung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung wird nur ausnahmsweise explizit wieder aufgegriffen, so in einem Artikel über Gustav Noske (S. 77–81). Häufiger ist die implizite Verarbeitung an aktuellem Material. Eine Wende dorthin brachte unverkennbar Peter Strutynskis berufliche Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Arbeitsgruppe „Produktivkraftentwicklung in Nordhessen“ in Kassel, dort offenbar auch angeregt von Karl Hermann Tjaden, der, von Marburg kommend, einen ähnlichen Weg ging: vom organisationsinteressierten Arbeiterbewegungs-Marxismus zu einem umfassenden historisch-geografischen und nun endlich tatsächlich auch stofflich orientierten Materialismus.

Der Befassung mit arbeitsorientierter Regionalpolitik verdanken sich die Aufsätze des ersten Teils („Die kapitalistische Ökonomie am Ende des 20. Jahrhunderts“, S. 9–74) des Buches, in denen der Verfasser sich mit den Umbrüchen in der industriellen Arbeitswelt auseinandersetzt: Lean Production, Gruppenarbeit, generell – S. 32–47 – mit der Frage: „Was kommt nach Ford und Taylor? – Ein Blick zurück in die Zukunft“ (1997). Zugleich werden „Auswege für die Gewerkschaften“ gesucht. (S. 48–59) Schon hier, 1998, konstatiert Strutynski „Einschnitte in Sozialstandards und Arbeitsrecht“ (S. 48) – was angesichts der späteren Kritik an Schröder und Hartz zuweilen übersehen wird.

Im zweiten Teil („Grundfragen des Marxismus und der Arbeiterbewegung“, S. 77–110) verdient der Aufsatz „Verelendung ohne Ende?“ (S. 82–91) besondere Beachtung. Er beginnt mit der differenzierten Wiedergabe und Interpretation der im „Kapital“ niedergelegten Auffassungen über die „Reproduktion der Ware Arbeitskraft“ und vergleicht sie mit der realen Entwicklung von deren Wert: Dieser steigt, was zu einer „ reale(n) Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse in den entwickelten kapitalistischen Ländern“ (S. 87) führt – aber nicht in gleicher Weise außerhalb der altkapitalistischen Metropol-Regionen und generell mit starken regionalen Unterschieden und historischen Verwerfungen. Eine entscheidende Schwelle war die von Marx konstatierte Ablösung der absoluten Mehrwertvergrößerung durch die relative, eine weitere – bereits in den „Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie“ von 1857/1858 konstatiert – die Entwicklung von über die physiologische Reproduktion hinausgehenden Bedürfnissen des „modernen Arbeiters“, dessen Existenz zwischen „Genussmensch“ und „Sisyphos“ (S. 88/89) schwankt, unter kapitalistischen Verhältnissen mit Überwiegen des letzteren Zustands.

Ein Aufsatz aus dem Jahr 1999 betrifft „Wegbereiter sozialdemokratischer Kriegsbefürwortung“ im wilhelminischen Reich anhand des Dampfersubventionsstreits 1884/1885, der Außenpolitik im Allgemeinen, der der Kolonialpolitik im Besonderen und schließlich der Militärpolitik. (S. 101–110) Missverständlich ist auf Seite 104 eine Bemerkung zu einem „Wechsel der Regierung, dem ein Wechsel auf dem Kaiserthron folgte und der als ‚Neuer Kurs‘ ausgegeben wurde“. Gemeint sind wohl die Ablösung Bismarcks 1890 und ihre Folgen. Der Übergang auf dem Thron – von Wilhelm I. über Friedrich III. zu Wilhelm II. – war 1888 vorausgegangen. Angesichts des Überfalls auf Jugoslawien 1999 konstatiert Peter Strutynski: „Der derzeitige SPD-Verteidigungsminister Scharping knüpft weniger an seine sozialdemokratischen Amtsvorgänger Schmidt, Leber und Apel als den ersten sozialdemokratischen Reichswehrminister Gustav Noske an.“ (S. 110) Dies kann bezweifelt werden: Die fünf miteinander verglichenen Politiker unterschieden sich wohl nicht durch ihre grundsätzliche Orientierung, sondern durch die Bedingungen, unter denen sie handelten. Im Beitrag „100 Jahre nach Basel – Friedensbewegung und Arbeiterbewegung“ aus dem Jahr 2012 (S. 111–121) konstatiert Peter Strutynski in einem Ausblick in die Zeit nach 1945: „Dass von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen dürfe, hat sich spätestens in der Folge des Zweiten Weltkriegs tief in das kollektive Bewusstsein der Menschen in West- und Ostdeutschland eingegraben.“ (S. 119) Realistischerweise lässt er eine zusätzliche Feststellung folgen: dieser Wandel begann in Zeiten „wirtschaftlichen Aufschwungs“, in denen sich „erfolgreiches Wirtschaften, soziale Wohlfahrt und internationale Anerkennung auch mit beschränkten Souveränitätsrechten und einer insgesamt zurückhaltenden Außenpolitik“ hatten erreichen lassen. (S. 120)

Der Abschnitt „Außen- und Sicherheitspolitik“ (S. 124–215) dokumentiert einen Lernprozess, den Marxist(inn)en, die im Kalten Krieg politisiert wurden und ab 1990 neu lernen mussten, durchliefen. Seit der Truman-Doktrin von 1947 war der Imperialismus in seiner alten, nationalstaatlichen Form durch ein antikommunistisches Bündnis der hochentwickelten kapitalistischen Staaten abgelöst worden. Mit dem Ende des Systemkonflikts aber stellte sich heraus, „dass die Hauptakteure wieder dieselben sind, die schon vor hundert Jahren den Kampf um die Vorherrschaft in der Welt ausgetragen haben.“ (S. 170) Aus einer solchen Konstellation waren die Weltkriege des 20. Jahrhunderts hervorgegangen. Diese Einsicht werde von geschichtsrevisionistischen Tendenzen konterkariert, wenn bei der Beschreibung der aktuellen Situation „führende Initiatoren der ‚Montagsdemos‘ die alleinige Schuld bei der ‚jüdischen‘ (!) US-amerikanischen Federal Reserve, der US-Notenbank, festmachen.“ (S. 205)

Damit kommt das Buch bereits zu seinem nächsten, dem umfangreichsten Teil: „Positionen der Friedensbewegung“ (S. 218–335). Hier wird eine fast einzigartige Stellung des Verfassers deutlich: gleichermaßen als analysierender Wissenschaftler wie als organisierender Aktivist. Er kritisiert eine wachsende Distanz dieser politologischen Teildisziplin gegenüber der Friedensbewegung. Zu seinen Leistungen gehört, dass er – auch nach seiner Pensionierung 2000 – zumindest in Kassel dies verhindern konnte. Auch in diesen Reflexionen hält er es mit seiner erprobten Denktechnik, ältere Einsichten weder aufzugeben noch sich mit ihnen zu begnügen. Die auf Rosa Luxemburg zurückgehende imperialismustheoretische These von der imperialistischen Landnahme verbindet er mit der detaillierten Analyse aktueller Kriegsökonomien. Strutynski wird gleichsam nebenbei auch schon zu einem Zeithistoriker der Friedensbewegung, etwa wenn er deren Aufs und Abs diagnostiziert, wobei in diesen konjunkturellen Wechseln (Massenproteste in den achtziger, Abflauen in den neunziger Jahren) ein weiterer Grund für Abneigung gegen Krieg in der deutschen Bevölkerung sichtbar wird: sie ist stark, wenn (wie nach dem Raketenbeschluss der NATO von 1979) ein Waffengang als Bedrohung der eigenen Haut wahrgenommen wird, weniger (wie nach 1990), wenn dies nicht der Fall ist.

Insgesamt handelt es sich um ein fakten- und gedankenreiches Buch, das zeigt, wie die Bewegungsorientierung eines Wissenschaftlers seine Erkenntnisbereitschaft und -fähigkeit vorantrieb und dass das Eine ohne das Andere nicht zu haben ist, jedenfalls nicht für Intellektuelle und diejenigen, die bereit sind, ihre Einsichten zur Kenntnis zu nehmen. Ein erheblicher Teil der hier abgedruckten Beiträge ist vorher schon in den „Marxistischen Blättern“ erschienen, für die dieser doppelte Anspruch ja ebenfalls gilt.

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"Konsistentes Denken", UZ vom 22. Juni 2018



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