Kultursplitter

Von Herbert Becker

Im Alter

Zwei Größen des bundesrepublikanischen „Geisteslebens“ dürfen in diesem Jahr ihren 90. Geburtstag feiern. Der eine, der Philosoph Jürgen Haber­mas, beschert uns ein monumentales Alterswerk. Er legte eine über 1 700 Seite dicke Schwarte mit dem anspruchsvollen Titel „Eine Geschichte der Philosophie“ vor. Er versteht diese Arbeit als Summe seines Denkens und wagt damit etwas, was eher ins 18. und 19. Jahrhundert gehört: Keine Rücksichten nehmen beim Anspruch auf Vollständigkeit, hochnäsiger Umgang mit der unübersichtlich riesigen Forschungsliteratur, souverän zu wissen meinen, was gesagt und was weggelassen werden kann. Im Zentrum seines Opus magnum stehen der Konflikt zwischen Glauben und Wissen und das abendländische Denken, nicht-westliche und feministische Philosophie bleiben außen vor. Die Kritik nach Erscheinen blieb freundlich, niemand wollte dem alten Herrn auf die Füße treten. Dass er die „Frankfurter Schule“, ihre Kritische Theorie jeglicher Spitze gegen die Herrschenden beraubt hatte, wird eher lobend erwähnt. Sein Spätwerk durchzieht die Behauptung, Glauben und Denken ließen sich in neuer Metaphysik vereinen.

Hans Magnus E­nz­ens­ber­ger, das zweite Geburtstagskind, feiert in diesen Tagen. Mit dem Image als „Enfant terrible“ des deutschen Literaturbetriebs konnte er ganz gut leben. Schließlich sah und sieht er sich selbst als Gesamtkunstwerk, sein ganzes Werk dient der Selbstmystifikation. Sein größtes Vergnügen war immer die Selbsterfindung. Seine Arbeit als Herausgeber des „Kursbuch“ und der „Anderen Bibliothek“ diente seinem Versuch, aus dem eigenen Werk eine eigene Tradition herzustellen. Sprachmächtig, phantastisch und virtuos spielte er auf der ganzen Klaviatur literarischer Formen. Pünktlich zum 90. legt der Suhrkamp-Verlag einen Text des damals 28-Jährigen vor, der bisher in der Schublade lag. Seine „Louisiana-Storys“, die er nach seiner Reise in die USA schrieb, mussten aus Marketinggründen jetzt doch noch zwischen Buchdeckel gepresst werden. Gleichzeitig legte der zweite Verlag, der HME unter Vertrag hat, nämlich Hanser, eine Essaysammlung auf. Unter dem Titel „Eine Experten-Revue in 89 Nummern“ behauptet der Autor, „dem Dämon der Arbeitsteilung verdanken wir unseren vorläufigen Sieg auf diesem Planeten“. Ansonsten, ganz in der Nähe von Habermas, bezeichnet Enzensberger sich selbst als „katholischen Agnostiker“. Zur deutschen Geschichte nach 1945 fällt ihm nur die Lobpreisung für „Schriftstellerinnen und Schriftsteller ein, die „Staatsterror und Säuberungen überlebt haben, mit all den moralischen und politischen Ambivalenzen“.

Aufregung

Der unerträgliche Müll, den die Herrschenden zum sogenannten „Mauerfall-Jubiläum“ in Berlin am Brandenburger Tor inszenierten, hatte wenigstens einen bemerkenswerten Patzer. Das ZDF übertrug live, beim Auftritt von Anna Loos gab es im Hintergrund Video-Einblendungen und, entsetzlich: Ein hebräischer Schriftzug war zu lesen, in der Übersetzung lautet der „Schluss mit der Besatzung“. Der in Israel bekannte Slogan kritisiert die dortige Politik in den Palästinensergebieten. Danach ging es los, die Jüdische Gemeinde zu Berlin meldete sich. Der unvermeidliche Grüne Volker Beck reichte eine Programmbeschwerde ein, der Veranstalter, die Kulturprojekte Berlin GmbH, entschuldigte sich beim israelischen Botschafter und dem Berliner Senat. Und, wie Pawlows Hund, kam Kultursenator Klaus Lederer (Partei Die Linke) um die Ecke und „bedauert zutiefst, dass eine anti-israelische Botschaft während der Feier zum 30. Jahrestag des Mauerfalls in einer Videosequenz zu sehen war“.

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Über den Autor

Herbert Becker (Jahrgang 1949) hat sein ganzes Berufsleben in der Buchwirtschaft verbracht. Seit 2016 schreibt er für die UZ, seit 2017 ist es Redakteur für das Kulturressort.

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"Kultursplitter", UZ vom 15. November 2019



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