Die Verfilmung von „Im Westen nichts Neues“ übt Verzicht an Charakteren

Masken aus Matsch

Pauls erster Schuss an der Front geht in den Leib eines Toten. Die Antwort des Feindes wehrt Paulchens Stahlhelm ab. Mit dem Loch im Helm erkennen wir ihn, wenn er – gespielt von Felix Kammerer – durch von aufgeworfenem Dreck und vergossenem Blut schwarz-rot gefärbte Wolken in Bodennähe der französischen Mondlandschaft rennt und dabei das Gesicht mit einer so dicken Schlammschicht bedeckt ist, dass man sich an antikes Theater und dessen Maskenpflicht erinnert fühlt.

In der Neuverfilmung des Romans „Im Westen nichts Neues“ scheiden drei Handlungsebenen die Fallhöhen: Da ist Paul, der, wie im Roman von Erich Maria Remarque aus dem Jahr 1928, mit seinen Freunden von der Schulbank weg und von deutschnationaler Durchhaltepropaganda verblendet zur Armee und in einen Krieg eilt, der zum Zeitpunkt schon in sein drittes Jahr gekommen ist. Die Euphorie aber weicht schnell der brutalen Realität an der Westfront.

Remarques Roman war seinerzeit ein Politikum: Den deutschen Faschisten und anderen Revanchisten war „Im Westen nichts Neues“ literarische Soldatenehrabschneidung. Die Rechte hielt es lieber mit Ernst Jüngers 1920 erschienenem „In Stahlgewittern“. Was Nazis aber bis heute den Kloß in den Hals stopft, liest sich in all seiner pathetischen Schwülstigkeit wie Satire, Jünger erreicht das Gegenteil dessen, was er da wohl beabsichtigt hat: Man erwischt sich dabei, lachen zu müssen ob der Stilblütensträuße, die Jünger da bindet.

Im Film unter der Regie von Edward Berger wird uns der sprachliche Wahnsinn der Reaktion vom fanatischen Lehrer mitgeteilt, der „Deutschlands eiserne Jugend“ darauf einstimmt, dass sie an die „Schwelle des Daseins“ tritt. Den Jungs kann man lang nicht ansehen, ob ihr Grinsen die Vorstufe zum Losprusten und Kaputtlachen über den kaisertreuen Clown bedeutet oder tatsächliche Begeisterung.

Letzteres ist der Fall, denn der Kampf der Nazis gegen die Literaten der Neuen Sachlichkeit wie Remarque oder Erich Kästner („Fabian“, 1931) ist keiner gegen die Linke. Es gibt keinen Widerstand gegen das Schicksal als Rohstoff der Kriegsmaschine in proto-existenzialistischen Werken wie „Im Westen nichts Neues“, gegen jene der zweithöchsten Handlungsebene, im Film personalisiert mit dem so hedonistischen wie fatalistischen General Friedrich (Devid Striesow), dem warm wird, wenn er besonders viele Männer verheizt.

Die antimilitaristische Aktion, auf halbem Weg zur Herrscherebene, vertritt Zentrumspolitiker Mathias Erzberger, klug besetzt mit einem, dessen immer etwas zu leise gehaltenes, zartes Timbre von Frieden spricht, ohne das Wort überhaupt in den Mund nehmen zu müssen: Daniel Brühl spielt den Leiter der Waffenstillstandskommission, dessen historisches Vorbild 1921 von der rechten Terrororganisation Consul ermordet werden sollte.

Machtlos dagegen sind Paul und Kameraden. Sie dürfen einzig zwischen Hoffnung und Resignation schwanken. Und keiner vermittelt das so eindrücklich wie Albrecht Schuch als Stanislaus „Kat“ Katczinsky, dessen Aufhellen der Gesichtszüge, das Lachen mit den schlechten Zähnen genau diesen kurzen Moment anzeigen, in dem er sich die Vorfreude auf die Heimkehr gestattet. „Kat“ mag im Film noch am Tiefsten gezeichnet sein – sonst sind die einen Soldaten ein bisschen mehr Schürzenjäger als die andern oder etwas feiger, aber sonst auch charakterlich uniform. Besonders die Hauptfigur Paul bleibt konturlos, ein Wunder, dass der Matsch an ihm überhaupt haften bleibt.

Es ist das übliche Problem von Adaptionen: „Im Westen nichts Neues“ ist eben als Roman entworfen, nicht als bombastischer Spielfilm. Erzählerhinweise, dass einem Übles droht, wenn man bei einem Angriff gefangengenommen und ein angeschliffener Spaten als Waffe bei einem festgestellt wird, sind nichts, was in einem Film Erwähnung findet, der trotz abstruser Spiellänge von zweieinhalb Stunden Details meidet.

Wirkliche Charaktere hat „Im Westen nichts Neues“ nicht zu bieten und man möchte dankbar sein, dass auch weitgehend auf große Spannungsmomente verzichtet wird und kein deutscher „Soldat James Ryan“ (1998) angeboten wird. Eindrückliche Szenen sind rar, scheinen – wie die Selbstmordszene, auf die der Diebstahl eines Tellers Suppe folgt – auch recht willkürlich gesetzt. So spontan, wie die im Vergleich zum Gesamtwerk recht eng am Roman geführte Bombentrichterszene, in der Paul Reue überkommt, nachdem er einen französischen Soldaten tödlich mit seinem Messer verletzt hat. Vielleicht nehme man für diese, wie für alle anderen Szenen auch, lieber die Buchvorlage zur Hand.


Im Westen nichts Neues
Regie: Edward Berger
Unter anderem mit: Felix Kammerer, Daniel Brühl, Albrecht Schuch und Aaron Hilmer
Abrufbar auf Netflix


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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Masken aus Matsch", UZ vom 11. November 2022



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