Die neue Ausgabe von „Melodie & Rhythmus“

Materialistische Fleischbeschau

„Fleisch“ ist das Titelthema der neuen „Melodie & Rhythmus“. Die Titelseite der Ausgabe 3/2021 zeigt eine geschlachtete Sau, aufgehängt an einem Fleischerhaken. Ein Heft zum Thema Ernährung, ein Plädoyer für den Veganismus gar? Mitnichten. „Fleisch“ ist hier ein vieldeutiger Begriff, steht mal für den menschlichen Körper, mal für dem Geist vorausgehende Materie, verweist dann auf die Fleischindustrie, versinnbildlicht Lebenskraft oder das Produkt künstlerischen Schaffens. Damit eröffnet das „Magazin für Gegenkultur“ ein denkbar weites Feld für kunsttheoretische und philosophische Debatten, dialektisch-materialistisch grundiert. „Fleisch“, egal wie weit gefasst, steht eben immer in Beziehung zu den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen. Um die geht es „Melodie & Rhythmus“ tatsächlich, Kunst und Kultur sind dafür nur Vorwand. Die Stoßrichtung des Heftes ist klar: Es geht gegen die Ignoranz der Idealisten.

Zentral ist Susann Witt-Stahls Artikel über Alfred Hrdlickas „brutal-realistische Utopie der Fleischheit“. Für Hrdlicka war der „primär Leib seiende Mensch“ und dessen Lebensrealität das Fundament aller Kunst. Witt-Stahl zeichnet ihn als „(kunst-)werktätigen Proleten“, der unermüdlich mit harter lebendiger Arbeit menschliches Fleisch aus totem Material schlug, sich aber immer gegen die Verdinglichung des Menschen wehrte. Fleischwerdung als zentrales Kriterium von Natur, Ideologie und Kunst, daraus speist sich die historisch-materialistische Ästhetik von Hrdlickas Kunst. Die sei auf ästhetischer, weltanschaulicher und politischer Ebene „antiidealistische Empörung“, zitiert sie den Kunsthistoriker Christian Walda.

Ganz ähnlich auch das Kunstverständnis Willi Sittes, schreibt Peter Arlt in seinem Beitrag über Sittes vitalistische Ästhetik. Für Sitte stand Fleisch vor allem als Synonym für Lebenskraft, während Hrdlicka dem „geschundenen Fleisch“ mindestens eben so großen Raum ließ. An dem nämlich zeige sich die Konsequenz falschen Bewusstseins im Kapitalismus, der Entfremdung und Lieblosigkeit. Apropos Entfremdung: Habe man in Schlachthäusern gearbeitet, zitiert Witt-Stahl Majakowski, „so wird man entweder Vegetarier oder man tötet kaltblütig Menschen“.

Auf den sowjetischen Dichter rekurriert auch Arnold Schölzel, der in seinem Beitrag „Zerlegt, zerhackt, zu Scheiben geformt“ kenntnisreich und gekonnt Zitate aus literarischen Werken ausschneidet, die sich mit Schlachthöfen und Fleischindustrie auseinandersetzen, und sie so zusammenfügt, dass eine kurze Abhandlung über die Genese jener Industrie entsteht, die wie kaum eine andere für die kalte Brutalität und unersättliche Gier des Kapitalismus steht.

Ein Filetstück sind Felix Klopoteks Überlegungen zur Körperlichkeit bei Roger Waters. Klopotek zeigt auf, wie das Sujet Körper im Werk des Sohns eines britischen Kommunisten im Laufe der Jahrzehnte immer mehr an Bedeutung gewann. Der Körper tauche in Waters’ Musik als Schlachtfeld auf, als „rätselhafter Ort des Widerstands und der Entfremdung“, der Ich-Spaltung, der drohenden Zerstückelung. Linke Kritiker hätten Waters zu oberflächlich gelesen. Seine Musik erzähle seit 50 Jahren von „dem Ausmaß der Unterwerfung, die uns diese Gesellschaft aufnötigt“.

In einem Teil Deutschlands war man schon einmal weiter. Davon erzählt Olaf Brühl, der sich mit Sinnlichkeit auf Bühnen der DDR beschäftigt. Im Humanismus verwurzelt, kam die Bühnenkunst der Theaterrepublik ohne Fleischbeschau aus. Verklemmt war sie deshalb nicht. Brühl argumentiert, Selbstbewusstsein und Lust seien alltägliche Aspekte der Freiheit im Sozialismus gewesen. Sinnlichkeit werde von Andeutungen geweckt. Gehe es in der Kunst um Fleischeslust, dann eben gerade nicht um das „Zeigen von Genitalien“. Sozialistische Kunst charakterisiert er als „wirklich die Freude, zur Besinnung zu kommen“.

Die Vieldeutigkeit des Titelthemas und die Unterschiedlichkeit der Beiträge bilden ein Mosaik, das überraschend kohärent ist. Die neue „Melodie & Rhythmus“ ist keine leicht verdauliche Kost, aber sie schmeckt und macht Appetit auf mehr.

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"Materialistische Fleischbeschau", UZ vom 9. Juli 2021



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