Ein Gespräch über Nawalny und die Proteste in Russland

Nicht der Realität entsprechend

Alexei Nawalny wird in den westlichen Medien als der einzige Vertreter der Opposition in Russland behandelt. UZ sprach mit Jaroslaw Listow, Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), über Nawalny, die Proteste und die wahren sozialen Probleme in Russland.

UZ: In den deutschen Medien wird der Rechtsextremist Alexei Nawalny als Anführer einer großen Protestbewegung in Russland dargestellt. Ist das tatsächlich so?

1208 Interview Portraet - Nicht der Realität entsprechend - Kommunistische Parteien, Proteste, Russland - Im Bild
Jaroslaw Listow ist Mitglied des ZK der KPRF, Leiter der Abteilung des ZK der KPRF für Jugendpolitik und Sekretär des ZK des Leninschen Komsomol der Russischen Föderation

Jaroslaw Listow: Das entspricht nicht der Realität: Nawalny hat eine bestimmte Unterstützung in Moskau und in einer Reihe großer Städte, aber selbst im Großraum Moskau, in dem 17 Millionen Menschen leben, ist das Potential seiner Anhänger überaus bescheiden.

Auf die Kundgebungen kommen nicht mehr als 10.000 bis 15.000 Menschen. Gleichzeitig zieht die massenhafte Propaganda für seine Aktionen in den sozialen Netzwerken (die nicht wenig kostet) einen Teil der auf Protest eingestellten Bürger an, die nicht für Nawalny, sondern gegen konkrete Handlungen der Staatsorgane auf die Straße gehen.

Zum Vergleich: Zu den Aktionen gegen die Erhöhung des Rentenalters, die von der KPRF in Moskau organisiert wurden, kamen zu drei Kundgebungen insgesamt etwa 500.000 Menschen.

Nawalny und seine Anhänger konnten dagegen nur eine Kundgebung durchführen und etwa 60.000 Menschen versammeln.

Gleichzeitig haben die KPRF und ihre Bündnispartner Aktionen in allen Städten des Landes durchgeführt, an denen nach unterschiedlichen Einschätzungen zwischen 2 und 6 Millionen Menschen teilnahmen, Nawalny hat nur in fünf Städten Aktionen mit insgesamt nicht mehr als 100.000 Teilnehmern durchgeführt. Ich denke, die Zahlen zeigen die politische Popularität Alexei Nawalnys überzeugend genug.

UZ: Nutzt Nawalny die Unzufriedenheit vieler Russinnen und Russen aus?

Jaroslaw Listow: Nawalny spielt geschickt mit mehreren Faktoren. Erstens: Die Verschlechterung der sozialökonomischen Situation vergrößert die Zahl derer, die bereit sind, auf Protestaktionen zu gehen. Zweitens: Das Ansehen des herrschenden Systems sinkt und die von der Regierung enttäuschten Menschen suchen Kräfte, die in der Lage sind, ihre Interessen zum Ausdruck zu bringen. Drittens: Die Regierung, liberale und ausländische Massenmedien schaffen mit allen Kräften die Illusion, dass der einzige „Kämpfer“ gegen das Regime Nawalny sei. Jeder von ihnen tut das im eigenen Interesse.

Die Regierung verdrängt die Protestwählerschaft, die Menschen boykottieren auf die Aufrufe Nawalnys hin die Wahlen (wie es bei der Abstimmung über die Verfassungsänderungen war), was es dem Regime erleichtert, an der Macht zu bleiben. Nawalny sammelt einen Teil der Protestwählerschaft und schafft ein Bild für die ausländischen Medien. Und bei den Bürgern im Ausland entsteht die Vorstellung, dass im Inneren des Landes die einzige Alternative zum „Einigen Russland“ Nawalny ist, was nicht der Realität entspricht.

Außerdem möchte ich unterstreichen, dass derzeit in Russland die Unzufriedenheit mit der Regierung so stark ist wie nie.

UZ: Worin ist diese Unzufriedenheit begründet?

Jaroslaw Listow: In erster Linie ist das natürlich die Verschlechterung der Lebensbedingungen der Menschen: es handelt sich sowohl um Preissteigerungen, einen Rückgang der Kaufkraft der Bevölkerung, ein Anwachsen der Arbeitslosigkeit, die Kommerzialisierung der sozialen Bereiche und in der Folge die Unzugänglichkeit von Bildung und medizinischer Versorgung. Die Erhöhung des Rentenalters, die fortschreitende Zerstörung der Industrie und der Raub der nationalen Reichtümer zugunsten eines Häufleins korrumpierter Beamter, die mit der Oligarchie verschmolzen sind. In zweiter Linie ist es der Angriff auf die Rechte und Freiheiten der Werktätigen, eine Verschärfung der Gesetzgebung in Bezug auf Kundgebungen und Proteste, der Verfall des Wahlsystems. All dies ruft bei den Bürgern Unzufriedenheit hervor, aber das Fehlen von Mechanismen der Einflussnahme auf die Regierung treibt sie zu Protestaktionen.

UZ: Man gewinnt immer mehr den Eindruck, dass es bei den Protesten nicht um eine Verbesserung der Lebensbedingungen für die Menschen geht. Sind die Inhalte der „Nawalny-Proteste“ aus dem Ausland bestimmt?

Jaroslaw Listow: Das ist nicht ganz so. Über die Proteste der KPRF, des Le-ninschen Komsomol und anderer linker Organisationen wird von ausländischen und staatlichen Medien nicht berichtet. Die Proteste der „Nawalnisten“ jedoch verfolgen ausschließlich enge politische Interessen. Statt die Fragen des Einkommens der Bürger, von Änderungen des Sozialsystems zugunsten der Werktätigen zu thematisieren, findet eine Untersuchung der Korruption bei einzelnen Beamten statt (was manchmal wie eine Auseinandersetzung zwischen herrschenden Clans aussieht), statt einer Veränderung der Wahlgesetzgebung wird nur der Zugang von Anhängern Nawalnys zu den Wahlen gefordert. Statt der Forderung, die Verfolgung aus politischen Gründen einzustellen, wird nur Freiheit für Nawalny gefordert.

UZ: Gibt es von links getragene Protestbewegungen?

Jaroslaw Listow: Die KPRF betreibt eine große Arbeit im Bereich der Proteste. Bei uns ist ein Stab für Protestaktionen aktiv, zu dem mehr als 70 Organisationen gehören. Und wir arbeiten in einem breiten Spektrum sozialökonomischer Fragen, von der Verteidigung der Russischen Akademie der Wissenschaft bis zur Wiederherstellung kostenloser Fahrten für Studierende und Schüler, zur Unterstützung betrogener Anteilseigner, die Anteile an im Bau befindlichen Häusern gekauft haben, aber nie eine Wohnung gesehen haben, und dem Kampf gegen Betriebsschließungen.

Eine große Zahl von Aktionen gilt auch der Verteidigung linker Aktivisten, die von der Regierung verfolgt werden. Da ist die Verteidigung des Abgeordneten Bessonow, der bereits seit fünf Jahren mit einer erdachten Anschuldigung verfolgt wird, da sind Versuche der feindlichen Übernahme von Volksunternehmen – der Lenin-Sowchose und der Swenigowskij-Sowchose –, da ist die Verfolgung von Abgeordneten regionaler Parlamente oder des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der KPRF, Pawel Grudinin, oder unserer Aktivisten.

Auf dem Hintergrund der Corona-Beschränkungen versucht die Regierung, die Protestbewegung der Kommunistischen Partei zu stoppen. So hat die Regierung am 23. Februar, dem Tag der Roten Armee, versucht, die traditionellen Aktionen zu verbieten. Unsere Aktivisten wurden festgenommen, sie wurden mit Strafzahlungen belegt, eingeschüchtert. Aber dennoch ist es uns gelungen, in allen großen Städten Aktionen durchzuführen: manchmal in Form von Treffen mit Abgeordneten, manchmal in Form von Blumenniederlegungen, Autokorsos und so weiter.

Die nächste allrussische Aktion gegen Preissteigerungen ist für den 20. Oktober geplant. Wir haben bereits aus 75 von 85 Regionen behördliche Ablehnungen erhalten, aber wir werden sie trotzdem durchführen, ohne den legalen Raum zu verlassen.

UZ: Auch die KPRF war Opfer von Wahlmanipulationen. Wie geht ihr damit um?

Jaroslaw Listow: Die KPRF ist die einzige Oppositionspartei, die an den Wahlen auf allen Ebenen teilnimmt.

Trotz der ständigen Änderungen des Wahlgesetzgebung zugunsten der herrschenden Partei gelingt es uns, erfolgreich unsere Interessen zu verteidigen. So decken wir alle Wahllokale mit unseren Beobachtern und Mitgliedern von Wahlkommissionen ab. Dazu laden wir ständig Aktivisten ein und bilden sie aus, die Schule der Beobachter ist laufend in Betrieb. In diesem Aspekt vereinigen wir die Arbeit von Juristen, des Parteiaktivs und Protestaktionen. Dies bringt Ergebnisse – wir haben praktisch in allen Subjekten der Russischen Föderation unsere Fraktionen, die zweitgrößte Fraktion in der Staatsduma, uns ist es gelungen, die Kandidaten der Regierung bei den Wahlen in der Oblast Irkutsk, der Republik Chakassien, in der drittgrößten Stadt des Landes, in Nowosibirsk, zu besiegen.

Aber das ist zu wenig. Zurzeit treten wir aktiv gegen die dreitägige Abstimmung ein, die es den Behörden erlaubt, fast unkontrollierbar die Ergebnisse der Wahlen zu ihren Gunsten zu manipulieren. Wir erarbeiten neue Strategien zum Schutz der Wählerstimmen, die für die KPRF abgegeben wurden.

Vor kurzem konnten wir vor dem Verfassungsgericht gewinnen und eine Hintertür in der Gesetzgebung schließen, durch die die Behörden unsere Kandidaten, die eine Chance auf den Sieg hatten, vor den Wahlen ausgeschlossen hatten.

Übersetzung: Renate Koppe


Am 17. März 1991 sprachen sich 148,5 Millionen Sowjetbürger im Rahmen eines Referendums für die Erhaltung der UdSSR aus – eine Mehrheit von fast 80 Prozent. Zum 30. Jahrestag der Volksabstimmung veranstaltete die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) ein Online-Forum, an dem zahlreiche Repräsentanten aller ehemaligen Sowjetrepubliken teilnahmen. Für UZ stellte Anton Latzo Auszüge aus den im Rahmen des Forums gehaltenen Vorträgen zusammen. Nachzulesen auf blog.unsere-zeit.de.


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Über die Autorin

Melina Deymann, geboren 1979, studierte Theaterwissenschaft und Anglistik und machte im Anschluss eine Ausbildung als Buchhändlerin. Dem Traumberuf machte der Aufstieg eines Online-Monopolisten ein jähes Ende. Der UZ kam es zugute.

Melina Deymann ist seit 2017 bei der Zeitung der DKP tätig, zuerst als Volontärin, heute als Redakteurin für internationale Politik und als Chefin vom Dienst. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bei der Arbeit für die „Position“, dem Magazin der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend.

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"Nicht der Realität entsprechend", UZ vom 26. März 2021



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