Warum bürgerliche Ideologen immer wieder auf den Wegbereiter des Faschismus kommen

Nietzsche! Und immer wieder Nietzsche!

Jürgen Meier

371001 Nietzsche - Nietzsche! Und immer wieder Nietzsche! - Philosophie - Theorie & Geschichte
Soll immer wieder salonfähig gemacht werden: Friedrich Nietzsche

Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir 1969 glaubten, in Nietzsche einen echten Revolutionär zu erkennen, der mit der Gottesehrfurcht, Sexualfeindlichkeit und Unterdrückung des Individuums endlich Schluss machen wollte. Als der von uns so hoch geschätzte Frankfurter Professor Max Horkheimer im „Spiegel“ verkünden ließ, dass Nietzsche möglicherweise ein größerer Denker als Marx gewesen sei, fühlten wir uns bestätigt. Wir suchten nach Orientierung in Nietzsches Schriften und fanden sie: „Du sollst der werden, der du bist.“ Wie sollte das gehen? „Die ältere Moral, namentlich die Kants, verlangt vom Einzelnen Handlungen, welche man von allen Menschen wünscht: das war eine schöne naive Sache …“ Das stimmt, dachten wir. Nicht Gott oder die Ethik von der einen Menschheit kann den Einzelnen stärken. Er muss es selbst tun. Wir wollten nicht länger die Gewänder der Bescheidenheit und Unterwürfigkeit gegenüber den Eltern, Pastoren, Professoren und der Staatsmacht tragen, sondern wollten das sein, was wir bis zu unserer Revolte nicht sein durften: Freizügig, selbstbewusst und autoritätsfeindlich. Für Nietzsche „hat das Einzelwesen eine ungeheuer große Bedeutung“. Das gefiel uns. Gleichzeitig erklärte er uns, was der Kern des Individuums sein müsse: „Der Instinkt redet (im Einzelwesen, J. M.) ganz richtig. Wo dieser Instinkt nachlässt – wo das Individuum sich einen Wert erst im Dienst für andere sucht, kann man sicher auf Ermüdung und Entartung schließen.“ Zu diesem Satz passte der Slogan: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!“ Denn wer Instinkte über sein Handeln im Sinne der Menschheit und des Menschlichen bestimmen lässt, landet schnell bei der biologischen Beschaffenheit des Menschen. Für den gibt es keine Moral. Denn „in der Moral behandelt sich der Mensch nicht als ‚individuum‘, sondern als ‚dividuum‘, also als Teilbares, das im Gegensatz zum Individuum nicht mehr ganz bei sich selbst und seinen Instinkten ist.

Neuer Aufklärer

Er verstand es, wie Georg Lukács schrieb, mit einem besonderen „antizipatorische(n) Feingefühl, eine Problemempfindlichkeit dafür“ zu entwickeln, „was die parasitäre Intelligenz in der imperialistischen Periode braucht, was sie innerlich bewegt und beunruhigt“. Parasitäre Intelligenz, das hören Akademiker unserer Zeit natürlich nicht gern, wähnen sie sich doch kritisch und immer mit Verweis darauf, dass ihr Denken und Handeln sich ganz auf die Demokratie stütze. Allerdings stets darauf bedacht, die Herrschaft des Monopolkapitals nicht zu erkennen.

Nietzsche war für uns „68er-Rebellen“ der „Neue Aufklärer“, so nannte er sich auch selbst. „Neu“ an dieser Aufklärung war, dass er nicht die Aristokratie und das Geburtsrecht kritisierte, wie das die Aufklärer der bürgerlichen Revolutionen getan hatten. Er kritisierte die aufstrebenden Bourgeois, die mit ihrem Reichtum prunkten, ohne die Eleganz der Aristokratie zu besitzen. Hätten Fabrikanten „die Vornehmheit des Geburtsadels im Blick und in der Gebärde, so gäbe es vielleicht keinen Sozialismus der Massen. Denn diese sind im Grunde bereit zur Sklaverei jeder Art, vorausgesetzt dass der Höhere über ihnen sich beständig als höher, als zum Befehlen geboren legitimiert – durch die vornehme Form!“

Wir werteten solche Sätze zwar zunächst als antikapitalistisch, begannen aber bald zu ahnen, dass wir hier einem indirekten Apologeten des Kapitalismus auf den Leim gegangen waren, der nicht direkt die entstehende kapitalistische Marktwirtschaft anpries, wie dies Adenauer, seine Minister des „Wirtschaftswunders“, unsere Eltern und Lehrer taten, sondern er verurteilte die Demokratie, die er mit dem Kapitalismus in Verbindung brachte. „Etwas ist allen gemein: sie (die Franzosen, J. M.) halten sich die Ohren zu vor der rasenden Dummheit und dem lärmenden Maulwerk des demokratischen Bourgeois.“

„Links-Nietzscheanismus“

Die Vorstellung es handele sich bei Nietzsche um einen großen Humanisten, einen „Linken“, will bis heute nicht verblassen. Nietzsche wird vom Philosophen Prof. Dr. Andreas Urs Sommer als experimenteller Denker bejubelt. Sehr aufschlussreich ist auch die Ankündigung eines Nietzsche- Seminars 2018 an der Universität des Saarlandes. Sie endete mit dem Satz: „Was Nietzsche jedoch über Frauen und bestimmte weitere Themen äußert, lässt man eher beiseite.“

Im gleichen Stil agiert auch Paul Stephan, geboren 1988, der im Schmetterlingsverlag zwei Bände mit dem Titel „Links-Nietzscheanismus“ veröffentlicht hat. Eines seiner Buchkapitel überschreibt er mit „Nietzsche als Vordenker des Feminismus“. Wer Nietzsche kritisiert, ist in seinen Augen ein „autoritärer Linker“. Um diese These zu beweisen, arbeitet er sich unter anderem an Georg Lukács ab. „Lukács‘ hegel-marxistische Schablone ermöglicht es ihm nicht, die einfachsten Differenzierungen im Lager der ‚Imperialisten‘ zuzugeben.“ Hier wird direkt der dialektische Materialismus als Weltanschauung angegriffen. Lukács geht von der Grundlage aus, dass das gesellschaftliche Sein als prägend für das Bewusstsein erkannt wird. In Stephans Nietzsche-Verteidigung ist es aber genau umgekehrt. Er verweigert sich der Erkenntnis, dass sich aus dem anorganischen das organische und aus diesem das gesellschaftliche Sein entwickelt hat, sondern er zitiert viele Dichter, Denker, Philosophen, Männer wie Frauen, die Nietzsche toll gefunden haben, und zieht daraus die Schlussfolgerung, dass Nietzsche doch gar nicht so schlimm sei, wie die „autoritären Linken“ behaupten.

Nietzsches Auftrag

Stephan führt Nietzsches Kampf gegen alles, was sich auf sozialistische und demokratische Bewegungen bezieht, fort. Lukács sei als Mitglied der KP im Kampf um die Ungarische Räterepublik nicht nur „Schreibtischtäter“ gewesen, „sondern als Soldat der Roten Armee direkt am Bürgerkrieg beteiligt. Man sieht auch hier wieder: Wer einmal für eine Sache unmoralische Handlungen ausgeübt hat und vor allem sein Leben riskiert hat, rückt so schnell nicht von ihr ab; Blut bindet.“

Wer derart moralisierend an die Revolution geht, kann sich wie Stephan bequem im bürgerlichen Wissenschaftsapparat einrichten, über Marx sinnieren und den Apologeten des Faschismus zu einem Linken verklären.

Die Revolution ist keine Sache der herrschenden Moral, die die Moral der Herrschenden ist. Die Revolution ist eine Sache der objektiven Notwendigkeit. Wer die Welt vor der Zerstörung durch die Strategen des Imperialismus retten will, kommt um den Klassenkampf der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker nicht herum, der muss sich lösen von der herrschenden Philosophie, Moral und Barbarei. Übrigens sind es nicht nur „autoritäre Linke“, die den Irrationalismus Nietzsches erkannt haben. Hier sei nur Albert Schweitzer genannt. Der „Übermensch“ Nietzsches, so Schweitzer, „der sich triumphierend gegen alle Geschicke behauptet und rücksichtslos gegen die anderen Menschen durchsetzt“, vernichte die „Sozialethik“, statt Ethik fordere Nietzsche den Zweckrationalismus vom „Willen zur Macht“ des „Übermenschen“. Nietzsche habe die Begriffe von Gut und Böse liquidiert, indem er den „Willen zur Macht“ als dominante Lebensanschauung einer Elite gesetzt habe.

Für die Elite des Imperialismus

Wenn Nietzsche behauptet, alles „aber ist geworden; es gibt keine ewigen Tatsachen: So wie es keine absoluten Wahrheiten gibt“, beginnt man zu ahnen, warum er den systemtreuen Denkern, Politikern, Literaten und Philosophen so gut als Basis dient, um all jenen, die die Welt von imperialer Hegemonie und Konkurrenz befreien wollen, zu erklären, dass es Wahrheit doch gar nicht geben könne. Alles sei subjektiv, jeder Mensch habe seine eigene Wahrheit. Folglich könne es auch keine gesellschaftliche Entwicklung geben. „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen“, hält Hegel dem entgegen. Dieses Ganze, diese eine Welt, die so geworden ist, wie sie heute ist, dürfen die Menschen nicht erkennen. Vor allem unter Studierenden wird Nietzsche 1968 wie 2020 genutzt, um die Erkenntnis dieses Ganzen im Meer von vielen Wahrheiten und Wirklichkeiten zu ertränken. Wünsche nach Veränderung dieser Welt werden erstickt im systemkonformen individuellen Ändern des eigenen Konsumverhaltens. Die Studierenden dürfen sich als tolerante, freiheitsliebende Elite fühlen. Diese Elite lag Nietzsche „am Herzen … und nicht der Mensch: nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidendste“. Der Mensch sei „ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde“. Auf der einen Seite der Mensch aus der „Kaste der Zwangs-Arbeit“, das Objekt des Menschen der „Kaste der Frei-Arbeit“ (Hitlers Arier) auf der anderen Seite, der allein der Garant einer „höheren Kultur“ sei. Damit wurde die Vernunft, die noch in der Aufklärung eine tragende Rolle spielte, liquidiert. Die Menschheit als Gattung wurde negiert, um die Existenz von Über- und Untermenschen als ein Gesetz der Natur präsentieren zu können.

Kultur der Unterdrückung

Nietzsche behauptete, „nur der, welcher sein Herz an irgendeinen großen Menschen gehängt hat, empfängt damit die erste Weihe der Kultur“. Der Führerkult wurde von Nietzsche vorbereitet. Nicht Demokratie und Selbstverantwortung für das Leben, sondern die Verehrung der Helden, der Führer, der Elite forderte Nietzsche. Kultur ist für ihn ein Zeichen der „Selbstbeschämung ohne Verdrossenheit, Hass gegen die eigne Enge und Verschrumpftheit, Mitleiden mit dem Genius, der aus dieser unsrer Dumpf- und Trockenheit immer wieder sich emporriss“. Nur der „Übermensch“ nimmt in seinem Denken die Impulse der Natur in sich auf, ihm drängt sich die Natur hin und er sorgt dafür, dass die Masse erkennt, dass die Führer die Kulturweihe von der Natur bekommen haben und sie sich deshalb diesen „Übermenschen“ anzupassen haben. Aber hier dürfe der Übermensch „nicht stehenbleiben, von dieser Stufe muss er hinauf zu der noch höheren; die Kultur verlangt von ihm nicht nur jenes innerliche Erlebnis, nicht nur die Beurteilung der ihn umströmenden äußeren Welt, sondern zuletzt und hauptsächlich die Tat, das heißt, den Kampf für die Kultur und die Feindseligkeit gegen Einflüsse, Gewohnheiten, Gesetze, Einrichtungen, in welchen er nicht sein Ziel wiedererkennt: die Erzeugung des Genius“. Der „Kampf für die Kultur“ ist in der Philosophie Nietzsches ein Kampf gegen die Kultivierung der einen Menschheit.

Auf den Müllhaufen der Geschichte

Nietzsche verkleidet seine aristokratischen und undemokratischen Prinzipien mit einem Vokabular, das sich auf den ersten Blick durchaus revolutionär anhört, spricht er doch von „Fortschritt“ und „besseren Bedingungen“ oder einer „neuen Kultur“. Doch seine „neue Kultur“ ist die Vernichtung der „alten Kultur“, die sich mit Demokratie und Moral verband. Nietzsches „neue Kultur“ will die ganze Erde, im Sinne des Übermenschen, „ökonomisch verwalten“. Dazu gehört die Elite oder, wie man heute zu sagen pflegt, die Leistungsträger, die wissen müssen, welche „Kräfte der Menschen“ genutzt werden können, um sie gegeneinander aufzuhetzen, damit sie zu beherrschen sind. Moderne Manager leben die „neue Kultur“ Nietzsches. „America First!“ ist angewandte Nietzsche-Philosophie. Von der AfD bis weit in die Linkspartei hinein wirkt die deutsche Nietzsche-Tradition.
Der Philosoph Alfred Baeumler schrieb: „Und wenn wir dieser Jugend zurufen: Heil Hitler! – so grüßen wir mit diesem Rufe zugleich Friedrich Nietzsche.“ Karl Otto Schmidt stellte Nietzsche in die NS-Ahnengalerie. „Das Führertum, das Nietzsche ersehnte, hat inzwischen im Nationalsozialismus seine politische, im Neugeist seine geistige Verwirklichung gefunden. Hier sind die ‚neuen Befehlshaber‘ und die ‚neuen Philosophen‘, nach denen er rief.“

Dass man sich immer wieder mit Nietzsche beschäftigen muss, hat mit dem Fortbestand imperialistischer Herrschaft zu tun.
Wolfgang Harich bringt es auf den Punkt: „Eine Gesellschaft kann kulturell kaum tiefer sinken, als wenn sie die Kenntnis seiner Elaborate zu den Kriterien ihrer Allgemeinbildung rechnet. (…) Den Mann nicht für zitierfähig zu halten, sollte zu den Grundregeln geistiger Hygiene gehören. Für die Orientierung in der Welt von heute und morgen wäre nichts verderblicher, als aus ihm Belehrung schöpfen zu wollen.“

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"Nietzsche! Und immer wieder Nietzsche!", UZ vom 11. September 2020



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