„Die deutsche Revolution von 1918/19 – Revolutionäres Erbe und Strategieentwicklung in der Politik der KPD“

Novemberrevolution: Ereignis – Deutung – Bedeutung

Von Raimund Ernst

novemberrevolution ereignis deutung bedeutung - Novemberrevolution: Ereignis – Deutung – Bedeutung - 100 Jahre Novemberrevolution, Leseprobe, Theorie & Geschichte - Theorie & Geschichte

Novemberrevolution 1918/19. Ereignis – Deutung – Bedeutung, Hrsg. Marx-Engels-Stiftung/Gerrit Brüning/Kurt Baumann, Neue Impulse Verlag, Essen 2018, 19,80 Euro, ISBN 978–3-96170–061-5

Die Novemberrevolution und die Gründung der KPD gehören untrennbar zusammen. (…) Die Novemberrevolution wiederum ist ohne die russischen Revolutionen von 1917 nicht zu erklären. Beide Revolutionen – die in Russland und die in Deutschland – haben ihren Ursprung in dem imperialistischen Weltkrieg, ihr Ausbruch ist veranlasst durch den in Massenbewegungen geäußerten Willen der Völker zum Frieden. In beiden Revolutionen kommt dem Proletariat erstmals in der Epoche des Imperialismus die historische Verantwortung zu, den Frieden für die eigene Nation zu erringen und den Weg für demokratischen und sozialen Fortschritt zu öffnen bis hin zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft.

Soweit trägt der historische Vergleich, aber mit Blick auf den Verlauf und das Ergebnis der Revolutionen tun sich gewaltige Unterschiede auf. Wir beschränken uns hier auf einen, vielleicht den entscheidenden Unterschied: Er betrifft die Existenz bzw. Nichtexistenz einer revolutionären Partei, die in der Lage war, der Klasse der abhängig Beschäftigten, ob in der Fabrik, in der Stadt oder auf dem Land, Richtung und Ziel für den Kampf um ihre Befreiung zu weisen. Während Lenin auf der Grundlage seiner Schrift „Was tun?“ bereits 1902 eine Parteikonzeption entwickelte, die in Strategie und Taktik ihrer weiteren politischen Tätigkeit diesen Ansprüchen gerecht zu werden versuchte, gab es in Deutschland bis zum Ausbruch der Novemberrevolution nichts Vergleichbares. Im Gegenteil, die Ausein­andersetzungen mit dem Revisionismus innerhalb der SPD führten nicht zu organisationspolitischen Konsequenzen, zu stark war das Bewusstsein der Einheit und ihres verpflichtenden Charakters in der Partei verankert, einer Einheit, die sich allerdings auf die organisatorische Hülle der Partei, nicht aber auf die weltanschauliche Klarheit der in ihr tätigen Mitglieder bezog.

Während der Kriegsjahre vollzog sich jedoch in der SPD ein Differenzierungsprozess entlang der Haltung zu diesem imperialistischen Krieg, festgemacht an der Bewilligung der Kriegskredite, sowie der Frage nach einer – möglichst revolutionären – Beendigung des Krieges. Angesichts des unvorstellbaren Grauens der Schlacht um Verdun formierte sich Anfang 1916 die radikale Linke in der SPD als „Spartakusgruppe“. Ein Jahr später, im April 1917, bildete sich dann gegen die Mehrheit in der SPD eine „Unabhängige Sozialdemokratische Partei“ (USPD), der sich die „Spartakusgruppe“ bei Fortsetzung ihres eigenständigen politischen Auftretens organisatorisch anschloss. Am Vorabend der Novemberrevolution gab es nun zwei Parteien und eine parteiähnliche Gruppe, welche die sich inzwischen herausgebildeten politischen Strömungen innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung repräsentierten: eine reformerische, auf Klassenzusammenarbeit ausgerichtete und zahlenmäßig stärkste Richtung (SPD), eine marxistische und für das Ende des Krieges wirkende von den ehemaligen Zentristen aus der Mehrheits-SPD herausgelöste Richtung (USPD) sowie „Spartakus“ beziehungsweise die „Gruppe Internationale“. Mit anderen Worten: Die Arbeiterschaft war denkbar schlecht auf die Revolution vorbereitet und die widerstreitenden Positionen der verantwortlichen politischen Akteure verhinderten, dass die aufbegehrenden Massen trotz ihres revolutionären Schwungs Richtung und Ziel für ihren Kampf erhielten.

Daran änderte sich auch nichts, als um die Jahreswende 1918/19 unter Führung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die beide in der internationalen und deutschen Arbeiterbewegung hohe Anerkennung genossen, die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) gegründet wurde. Man möge nie vergessen, dass zum Zeitpunkt der Gründung und der ersten organisationspolitischen Schritte als revolutionäre Partei den Mitgliedern und Anhängern im wahrsten Sinne des Wortes „die Kugeln um die Köpfe“ flogen, dass schon zwei Wochen später der von einer reaktionären Soldateska begangene Meuchelmord an Liebknecht und Luxemburg die junge Partei „führerlos“ machte. Das zuvor beschlossene Programm, gewissermaßen die Geburtsurkunde der Partei und der politische Kompass für ihre Arbeit, steht ganz und gar unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse und ist nur zu verständlich vom Geist und Elan der Revolution bestimmt. (…)

Noch in den heißen Tagen der Revolution wurde deutlich, wie schnell die Revolutionäre von nahezu unlösbaren Konflikten eingeholt wurden, die über Verlauf und Erfolg der Revolution entscheiden sollten. In wessen Händen lag die Macht in der neuen Republik: bei den Räten als Vollzugsorganen der Revolution oder der Nationalversammlung bzw. dem Parlament? Wie stand es mit den ersten Schritten der Sozialisierung, die eine sozialistische Perspektive für das Land hätten eröffnen können? Ein halbes Jahr nach ihrem Ausbruch war die Novemberrevolution niedergerungen, ihre Macht demonstrierte die einheitlich handelnde Arbeiterklasse noch einmal bei der erfolgreichen Vereitelung des reaktionären Kapp-Putsches. Mit der Absetzung der verfassungsmäßigen Landesregierungen von Sachsen und Thüringen sowie dem Scheitern des Hamburger Aufstands endete nach einer Vielzahl von Streiks und mit militärischen Mitteln geführten Widerstands- und Unterdrückungsaktionen die revolutionäre Nachkriegskrise. Der Kampf um die proletarische Macht im Staate und die Weichenstellung in Richtung Sozialismus waren in diesem ersten Anlauf gescheitert, die politischen Kräfte, die für diese Ziele eintraten, blieben trotz eines beträchtlichen Einflusses in der Arbeiterschaft in der Minderheit. Damit war objektiv das Thema auf die Tagesordnung gesetzt, welche Bedeutung in der künftigen politischen Auseinandersetzung der Verteidigung der bisher unbestritten erreichten demokratischen und sozialen Errungenschaften zukam und wie sie im revolutionären Kampf zu nutzen waren. (…)

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher laden wir Sie ein, die UZ als Wochenzeitung oder in der digitalen Vollversion 6 Wochen kostenlos und unverbindlich zu testen. Sie können danach entscheiden, ob Sie die UZ abonnieren möchten.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Novemberrevolution: Ereignis – Deutung – Bedeutung", UZ vom 2. November 2018



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Stern.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit