Lenins geschichtsmächtigstes Werk, neu editiert

Programm des revolutionären Kommunismus

Von Herbert Münchow

Der Marxismus über den Staat. Staat und Revolution. Kritische Neuausgabe, Verlag 8. Mai, Berlin 2019, 423 Seiten, 24,90 Euro.

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Im Verlag 8. Mai ist die Kritische Neuausgabe von Lenins Exzerptheft „Der Marxismus über den Staat“ und seiner im August/September 1917 verfassten politischen Hauptschrift „Staat und Revolution“ erschienen. Zur ideenhistorischen Einordnung dienen Essays von Hermann Klenner und Wolfgang Küttler. Der Verlag hat ein Vorwort vorangestellt, um „auf weitere bedeutsame Rezeptionslinien aufmerksam zu machen“. Die Neuedition beruht auf dem im Dietz Verlag 1960 veröffentlichten Band 25 der Lenin-Werkausgabe. Für die Wiedergabe der Exzerpte, bei Dietz als „Marxismus und Staat“ erschienen, diente die 1930 im Leninskij Sbornik XIV veröffentlichte Transkription.

Hermann Klenner, der einführend das Thema „Lenin als ‚Klassiker‘. Recht und Unrecht von und in ‚Staat und Revolution‘“ behandelt, bescheinigt diesem, weltgeschichtlich in die Reihe „der politischen Großdenker“ eingerückt zu sein. Leider sind die Herausgeber nicht seinem Hinweis gefolgt, Lenins „Aprilthesen“ als Dokument aufzunehmen, weil sie „die Grundlage der Zielstellung von ‚Staat und Revolution‘“ sind, das Werk „legitimieren“ und „bei dessen Abdruck an die Spitze gestellt“ gehören.

Die Aprilthesen enthalten Lenins Konzept der Revolution, der Zerschlagung des bürgerlichen Staates und dessen Ersetzung durch einen Kommunestaat, durch die Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputierten. Er hat es in seinem Exzerptheft „mittels der Wiederherstellung der wahren Marxschen Lehre vom Staat“ entwickelt. „Aus den ‚vergessenen Worten‘ des Marxismus schuf Lenin das politische Programm des revolutionären Kommunismus der Gegenwart!“ (Hermann Duncker) Das ist die entscheidende Rezeptionslinie, auf die Lenin immer wieder zurückkommt und die auch für die DDR-Debatte maßgeblich war.

Klenner würdigt die Besonderheit und Einmaligkeit Lenins gegenüber anderen Großdenkern. Er hat seine Darlegungen „unüberlesbar vor allem wegen seiner Kritik an seinen Gegnern angefertigt“. Nicht als Andersdenkende, sondern als Nichtdenkende, als politische Feinde, betrachtet sie Lenin. Die damit verbundene inhaltliche Konzentration hatte Beschränkungen zur Folge. So spielen Differenzierungen im Früh- und Spätwerk von Marx und Engels, das Recht als Maß der Macht, die Rechte des Einzelnen, die subjektiven Rechte der Staatsbürger in „Staat und Revolution“ keine Rolle. Klenner lässt aber in diesem Zusammenhang kein „Missverständnis“ aufkommen: „Revolutionen sind ohne Rechtsbrüche nicht zu haben und der Gesellschaftsfortschritt nicht ohne Revolutionen.“

Lenin war, wie Klenner aufzeigt, „nicht nur Theorie-, er war Revolutionsproduzent“. Im Verlagsvorwort wird dem mit der Behauptung widersprochen „Staat und Revolution“ sei „keine Programmschrift“, „die als Leitfaden für die konkrete Politik einer revolutionären Partei in der Revolution zu verstehen ist“. Programm aber ist Handlungsorientierung und genau das wollte Lenin. Er kam im Verlaufe der Oktoberrevolution immer wieder auf „Staat und Revolution“ zurück. Denken wir an die Programmdebatte 1917/1918, den „Anti-Kautsky“, die Entgegnung auf die im Anhang abgedruckte Rezension Bucharins zu „Staat und Revolution“, die Einleitung einer Wende in „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“. Der Umgestaltungsplan verstieß gegen Prinzipien des „Kommunestaates“. Lenin sprach das offen aus, verschwieg auch keinen Irrtum. Sein politisches Konzept hat er in weiteren staatstheoretischen Schriften überprüft, konkretisiert und in einige Punkten auch korrigiert. Leider fehlt selbst dem sehr informativen Kommentar von Wladislaw Hedeler und Volker Külow über Entstehung und Veröffentlichung von „Staat und Revolution“ eine derartige inhaltliche Sicht. Das vorschnelle Reduzieren der Rezeptionslinie, auch nach 1953, auf die Auseinandersetzung mit vermeintlichen Abweichungen, blendet wesentliche Problemfelder aus, die im Literaturverzeichnis allerdings belegt sind.

Wolfgang Küttler behandelt „‚Staat und Revolution‘ im Kontext von Lenins Konzeption des Übergangs zum Sozialismus“. Er sieht bei Lenin ein Theorieverständnis, das einen „Trend zu mechanizistischer Überdetermination“ aufweise.

Lenin hat sich in „Staat und Revolution“ mehrfach zur Methode von Marx und seiner Marx-Rezeption geäußert. Nirgends habe ich dort oder auch in seinen späteren Staatstexten einen Mechanizismus herausgelesen. Küttlers Essay überzeugt nicht, weil seine Beweisführung nicht überzeugt. Er geht auf kritische Distanz zu Lenin, den er einst, wenn ich mich an meine Studienzeit erinnere, hoch geschätzt hat, und sieht Ungereimtheiten (zum Beispiel in dessen Haltung zur Duma noch Anfang Oktober 1917), wo es doch nur um taktisches Verhalten vor dem bewaffneten Aufstand ging.

In diesem Rahmen ist es nicht möglich, auf weitere Inhalte der technisch ausgezeichnet ausgestatteten Neuedition einzugehen. Es handelt sich um eine wichtige Publikation, die die aktuelle Debatte um den Klassencharakter staatlicher Macht und um die Staats- und Demokratiefrage bei zukünftigen Sozialismusanläufen anregt und unterstützt, das Studium der Leninschen Staatstexte erleichtert.

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"Programm des revolutionären Kommunismus", UZ vom 17. Mai 2019



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