Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof: Dürfen Beamte doch streiken?

Recht vor Tradition

Für den 1. März (nach Redaktionsschluss) hatte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur mündlichen Verhandlung im Rechtsstreit von vier Mitgliedern der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) gegen die Bundesrepublik Deutschland geladen. Es geht um den Fall von drei Lehrerinnen und einem Lehrer aus Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Sie hatten sich 2009 und 2010 an Streiks der GEW beteiligt, der Dienstherr verhängte hierfür disziplinare Geldbußen. Die Beamten wehrten sich.

Ihr Weg durch die Instanzen deutscher Gerichte endete am 12. Juni 2018 mit der Abweisung ihrer Verfassungsbeschwerde durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Im Leitsatz dieser Entscheidung heißt es: „Das Streikverbot für Beamte stellt einen eigenständigen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 Grundgesetz (GG)dar.“ Schon in der Weimarer Republik war das Streikverbot für Beamte geltendes Recht. Nach Ansicht der Karlsruher Richter war damit die Sache glasklar. Ein Beamter könne nicht einerseits die Vorteile des Beamtenstatus in Anspruch nehmen und sich andererseits mit Streik gegen seinen Dienstherrn auflehnen. Er unterliege der besonderen Treuepflicht gegenüber dem Staat. „Ein Rosinenpicken lässt das Beamtenverhältnis nicht zu“, hieß es im Urteil. Zwar sei das Streikverbot ein Eingriff in die verfassungsrechtlich verbriefte Koalitionsfreiheit nach Artikel 9 Abs. 3 GG. Doch sei dieser Eingriff gerechtfertigt, da die Rechtstradition des Berufsbeamtentums in Deutschland dagegen stehe.

Schon zum Zeitpunkt der Karlsruher Entscheidung waren auf europäischer Ebene die Würfel in entgegengesetzter Richtung gefallen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte am 21. April 2009 für zwei türkische Beamte ein Streikrecht angenommen, unabhängig davon, dass auch in der Türkei Streiks im öffentlichen Dienst untersagt waren. Der EGMR stützt sich dabei auf Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der jeder Person gewährleistet, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln, sich mit anderen zusammenzuschließen sowie Gewerkschaften beizutreten.

Die GEW, die als Organisation die Menschenrechtsbeschwerde unterstützt, führt den Vorrang des Völkerrechts und des internationalen Arbeitsrechts vor den althergebrachten Traditionen des deutschen Beamtentums ins Feld. Wesentlicher Teil des Koalitionsrechts, so die GEW, sei es auch, den Arbeitskampf als letztes Mittel in der Auseinandersetzung um höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten anzuwenden. Prinzipiell stehen die Chancen für eine Durchsetzung des Streikrechts für Beamte angesichts der „Türkei-Entscheidung“ gut. Die Aufmerksamkeit von cirka 1,8 Millionen Beamten richtet sich nun auf den Ausgang des Verfahrens in Straßburg.

Ein klarer Richterspruch würde – und das nicht zum ersten Mal – das „Rosinenpicken“ der deutschen Justiz beenden. Die wäre nämlich gezwungen, sich dem Urteil Straßburgs zu fügen. Die bisherige Praxis, unangenehme Entscheidungen nur als „Orientierungshilfe“ in deutsche Urteile einfließen zu lassen, hätte ein Ende.

Über den Autor

Ralf Hohmann (Jahrgang 1959) ist Rechtswissenschaftler.

Nach seinen Promotionen im Bereich Jura und in Philosophie arbeitete er im Bereich der Strafverteidigung, Anwaltsfortbildung und nahm Lehraufträge an Universitäten wahr.

Er schreibt seit Mai 2019 regelmäßig für die UZ.

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"Recht vor Tradition", UZ vom 3. März 2023



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