Habeck stellt Jahreswirtschaftsbericht vor: Leitbild einer „sozial-ökologischen Marktwirtschaft“

Regierungsamtliche Kaffeesatzleserei

Erstmals wurde der traditionelle Jahreswirtschaftsbericht von einem Mitglied der Partei „Die Grünen“ im Bundeskabinett vorgestellt. In diesem verneigt sich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck gleich im ersten Abschnitt vor den „Leistungen der sozialen Marktwirtschaft“ und betont: „Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft ist seit Jahrzehnten ein fester Orientierungspunkt für die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik. Auch heute besteht in Gesellschaft und Politik weitgehende Einigkeit über den Mehrwert dieses wirtschaftspolitischen Konzepts, da es die soziale Sicherung der Bürgerinnen und Bürger mit den Potenzialen der freien wirtschaftlichen Entfaltung und des Wettbewerbs verbindet.“ Auf dieser Grundlage soll dieses Leitbild nun weiterentwickelt werden zu einer „sozial-ökologischen Marktwirtschaft“.

Darüber hatte es im Vorfeld einige Debatten gegeben. Hochzufrieden stellte die „FAZ“ bei ihrer Analyse des Berichts am 27. Januar fest: „Kapitalismuskritische Passagen aus einem früheren Entwurf des Berichts fehlen in der abgestimmten Fassung.“ Ob dies, wie das Blatt vermutet, auf die „Koalitionspartner“ zurückzuführen war, mag dahingestellt sein. Im Ergebnis aber ist von den früheren kapitalismus- und wachstumskritischen Elementen, die noch den Wahlkampf der Partei des neuen Wirtschaftsministers prägten, nun nichts mehr übriggeblieben – sogar das Wort „Kapitalismus“ ist auf den über 100 Seiten des Werkes komplett wegzensiert.

Nicht nur die Traditionslinie Ludwig Erhards hat sich damit durchgesetzt. Auch der Amtsvorgänger von Habeck, Peter Altmaier (CDU), dürfte mit seinem Nachfolger zufrieden sein. Das Werk reiht sich nahtlos ein in den vor ziemlich genau einem Jahr veröffentlichten Jahreswirtschaftsbericht 2021, der sich auch schon das Ziel setzte, die „Energiewende und Klimaschutz marktwirtschaftlich voran(zu)treiben“ und den „Energieträger Wasserstoff (zu) erschließen“. Das soll jetzt eben ein Minister mit grünem statt mit schwarzem Parteibuch machen.

Die Zahlen des Berichts werden eine ähnlich kurze Halbwertszeit haben wie die seiner Vorgänger. Vor einem Jahr prognostizierte Altmaier ein Wachstum von 3 und eine Inflationsrate von 1,5 Prozent. Daraus ist nichts geworden – das Wachstum lag niedriger und die Inflationsrate zum Jahresende dafür um einen Zahlendreher höher. Da Optimismus zur Arbeitsplatzbeschreibung eines Bundeswirtschaftsministers gehört, lauten die Zahlen nun: Wachstum des Bruttoinlandprodukts von 3,6 Prozent, Inflationsrate im Jahresmittel von 3,3 Prozent. Grund für Preissteigerungen seien unter anderem die Engpässe in der Chipindustrie, die nun wohl doch länger andauern sollen als noch vor den letzten großen Tarifauseinandersetzungen angekündigt. Das ist nichts anderes als regierungsamtliche Kaffeesatzleserei – es gibt weder einen Plan, nach dem sich diese Art des Wirtschaftens steuern ließe, noch hat dieses System die Fähigkeit zu einer seriösen Prognose der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung. Immerhin sollte die Ankündigung einer Inflationsrate von 3,3 Prozent und die Ankündigung eines Wachstums von 3,6 Prozent bei stagnierender Bevölkerung Grund genug für alle Gewerkschaften sein, in keiner der kommenden Tarifauseinandersetzungen einem Abschluss unter 3,3 plus 3,6 – also 6,9 Prozent – Lohnsteigerung zuzustimmen.

Die Bundesregierung wird ihnen bei diesen Kämpfen keine Hilfe sein. Die für eine sich selbst so bezeichnende „Fortschrittsregierung“ auf der Hand liegende Forderung, angesichts der Preissteigerungen für einen Ausgleich auf der Lohnseite zu werben, findet sich in dem Bericht nicht – stattdessen nur die blasse Formulierung: „Die Bundesregierung behält die Entwicklung der Inflationsrate (…) im Blick.“ Mehr noch: Wenn sich in den nächsten Jahren die soziale Lage vieler Lohn- und Lohnersatzleistungsabhängiger weiter verschlechtern sollte, wird diese Regierung möglicherweise eingängige Kernzahlen hinter einer Nebelwand eines neuen, willkürlichen Zahlensprechs verschwinden lassen. Darauf deutet jedenfalls ein „Sonderkapitel“ hin, das sich „Nachhaltiges und inklusives Wachstum – Dimensionen der Wohlfahrt messbar machen“ nennt, das Bemühungen ankündigt, neue Wohlstands­indikatoren einzuführen.

Solche Versuche wiederum sollten die abhängig Beschäftigten „im Blick“ behalten.

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"Regierungsamtliche Kaffeesatzleserei", UZ vom 4. Februar 2022



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