… und mussten dennoch gezwungen werden, deren Gesundheit zu erhalten – Zur Geschichte der Sozialversicherung

Sie brauchen die Arbeiter …

Von Monika Münch-Steinbuch

Im Band I des „Kapital“ zitiert Marx die bürgerliche Zeitschrift „Times“: „Obgleich die Gesundheit der Bevölkerung ein so wichtiges Element des nationalen Kapitals ist, fürchten wir, gestehen zu müssen, dass die Kapitalisten durchaus nicht bei der Hand sind, diesen Schatz zu erhalten und wert zu achten (…). Die Rücksicht auf die Gesundheit der Arbeiter wurde den Fabrikanten aufgezwungen.“

Schon Friedrich Engels beschreibt in „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, was man heute Präsentismus nennt: „Natürlich; die Furcht, entlassen zu werden, die Furcht vor Brotlosigkeit treibt sie, trotz ihrer Schwäche, trotz ihrer Schmerzen in die Fabrik; das Interesse des Fabrikanten leidet es nicht, dass seine Arbeiter Krankheits wegen zu Hause bleiben, sie dürfen nicht krank werden, sie dürfen sich nicht unterstehen, ins Wochenbett zu kommen – sonst müsste er ja seine Maschinen stillsetzen oder seinen allerhöchsten Kopf mit der Einrichtung einer temporären Änderung plagen; und ehe er das tut, entlässt er seine Leute, wenn sie sich unterfangen, unwohl zu sein.“

Gegenseitige selbstorganisierte und selbstverwaltete Unterstützungskassen zum Beispiel bei Unfall und Krankheit haben eine lange Tradition in der Arbeiterbewegung wie die Unterstützungsvereine der Bergarbeiter – die erste urkundlich belegte selbstverwaltete Knappschaft wurde bereits 1260 in Goslar gegründet – zum Teil sogar mit eigener Gerichtsbarkeit. Die Unternehmen hatten schon früh ihre eigenen Vorteile erkannt, die solche Hilfseinrichtungen der Arbeitenden hatten, nämlich ein stabileres Arbeitskräftereservoir. Schon früh haben sie versucht, sich ein Mitspracherecht in solchen Kassen zu erschleichen durch direkten Abzug der Knappschaftsbeiträge vom Wochenlohn. Die autonom verwalteten Hilfskassen der Arbeiterbewegung waren dem direkten Zugriff von oben entzogen und konnten die Basis abgeben für weitere Aktivitäten der Arbeiterinnen und Arbeiter.

Mit dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 wurde die ohnehin elende Lage der Arbeiterklasse in Deutschland noch verschärft durch zahlreiche Kriegsinvaliden, die Kampf- und Organisationsbereitschaft nahm zu und 1875 wurde die Sozialistische Arbeiterpartei gegründet.

Mit- oder Selbstbestimmung?

Der Reichskanzler Bismarck reagierte mit Zuckerbrot und Peitsche. Mit dem Sozialistengesetz trieb er die Sozialdemokraten in die Illegalität und mit seiner Sozialgesetzgebung versuchte er, der proletarischen Bewegung den Boden zu entziehen. Am 15. Juni 1883, unter dem damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck, wurde das „Gesetz betreffend der Krankenversicherung der Arbeiter“ erlassen. Von diesem Zeitpunkt an sind Industriearbeiter und Beschäftigte in Handwerks- und Gewerbebetrieben krankenversicherungspflichtig. Diese Sozialversicherungen begründeten einen beitragsabhängigen Rechtsanspruch auf Leistungen bei Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Invalidität oder Alter. In der sogenannten Generalversammlung bestimmten die Arbeiter aktiv mit – staatlich verordnete Sozialpartnerschaft in den Krankenkassen also.

Friedrich Engels war sich der Doppelfunktion der Bismarckschen Sozialgesetzgebung sehr bewusst: „Und wenn es dahin käme, dass die Reaktion dem deutschen Proletariat einige Scheinkonzessionen hinwerfen sollte, um es damit zu ködern – dann wird hoffentlich das deutsche Proletariat antworten mit den stolzen Worten des Hildebrandsliedes: Mit dem Speere soll man die Gabe empfangen, Spitze gegen Spitze (…). Die Reaktion hat die Arbeiter nötig, aber nicht die Arbeiter die Reaktion.“

Die 1911 verabschiedete Reichsversicherungsordnung behält ihre Gültigkeit bis zur sukzessiven Ablösung durch die zwölf Sozialgesetzbücher gegen Ende des letzten Jahrhunderts. Die Weimarer Reichsverfassung garantierte in Artikel 161 „ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten“.

Rasse statt Klasse

Die Nationalsozialisten schafften alle Selbstverwaltungsorgane ab: 1934 die der Versicherten, die 6 985 Krankenkassen wurden zu einer nationalsozialistischen Einheitskasse zusammengefasst – ohne Rechtsanspruch auf Versicherungsleistung, am 2. August 1933 die Kassenärztlichen Vereinigungen, am 13. Dezember 1935 die Ärztekammern; Letztere wurden durch die Reichsärztekammer ersetzt. Rassenideologie, Ausmerzung „lebensunwerten Lebens“, staatliche Interessen, Rassenhygiene, Volkswohl statt Individualwohl des einzelnen Mensch bestimmten ärztliches Denken und Handeln. Der Pflegedienst war den Ärzten unterstellt. Die Ärzteschaft ließ sich in die Menschenvernichtungspolitik des NS-Regimes in Krieg und Konzentrationslagern einbinden. Jüdische und kommunistische Ärzte erhielten Berufsverbot.

Nach der Befreiung

Deutschland und Österreich wurden nach dem Potsdamer Abkommen in je vier Besatzungszonen aufgeteilt. In den sowjetisch besetzten Gebieten konnte die Bevölkerung ihr zukünftiges Gesellschaftssystem frei wählen: in Österreich blieb es beim kapitalistischen System. Deutschland wurde durch die kapitalistischen Siegermächte, allen voran die USA, gespalten mit der Errichtung von Trizone und Bundesrepublik Deutschland als Brückenkopf gegen die sozialistischen Länder und als Schaufenster des Westens. Nur im sowjetischen Einflussbereich wurde der sozialistische Entwicklungsweg in Deutschland zugelassen. Das heißt, der gesamte Staat war in der DDR Gegenstand der Selbstverwaltung durch die Bevölkerung. Das Gesundheitswesen in der DDR war nicht am Profit für Pharmaindustrie und Krankenhauskonzerne orientiert, sondern an den tatsächlichen Bedürfnissen der Bevölkerung ohne den Zielkonflikt zwischen Ökonomie und Patientenversorgung im Arbeitsalltag, der sich bei uns mit Einführung von Budgetierung und Fallpauschalen entwickelt hat, mit einer strikten Verpflichtung auf das Patientenwohl, das Recht auf Gesundheit. Erst die Annexionsphase durch die kapitalistische Bundesrepublik hat die DDR-Bevölkerung in große Not gestürzt mit hohen Selbstmordraten, Mangel an Medikamenten, Ausfall von ca. 50 Prozent der Gelder zur Finanzierung des Gesundheitswesens.

In der Bundesrepublik wurden nach Kriegsende die Krankenkassen mit ihren Selbstverwaltungsorganen wieder aufgebaut. Die Reichsärztekammer wurde verboten, aber viele NS-Ärzte waren noch Jahrzehnte nach dem Krieg in Amt und Würden – zum Beispiel Werner Catel, einer der drei T4-Gutachter, die über die Tötung von behinderten Kindern im Faschismus entschieden haben, wurde 1954 Professor für Kinderheilkunde an der Universität Kiel. Die Landesärztekammern sind Anstalten öffentlichen Rechts und unterliegen den Heilberufegesetzen der Länder, die Bundesärztekammer ist nur deren Arbeitsgemeinschaft. Die Ärztekammern als berufsständische Selbstverwaltungseinrichtungen sind für Fort-und-Weiterbildung der Ärzte verantwortlich, für Facharztprüfungen und Gutachten, für die Ausbildung von Medizinischen Fachangestellten und für die Versorgungsanstalten der ÄrztInnen. Die Ärztekammern vertreten die Ärztinnen und Ärzte in gesundheitspolitischen Gremien zusammen mit den Verbänden von Krankenhäusern und Krankenkassen.

Systemkonkurrenz

Die Sicherstellung der Versorgung im ambulanten Sektor wurde der Kassenärztlichen Vereinigung übertragen und über privatwirtschaftliche Kleinunternehmen, die Praxen niedergelassener Ärzte organisiert. Für Sicherstellung des stationären Sektors sind die Gemeinden und Landkreise zuständig, für psychia­trische Anstalten und Universitätskliniken die Bundesländer. Krankenhäuser und Kurheime wurden von gemeinnützigen und kirchlichen Organisationen Organisation sowie von der öffentlichen Hand getragen. Es gab zunächst nur wenige kleine Privatkrankenhäuser.

Adenauer sagte im Bundestag am 9. Oktober 1962: „Es sind inzwischen Stimmen laut geworden, es seien auf sozialem Gebiet zu große Aufwendungen gemacht worden. Nun, ich bin der Auffassung, dass bei der Lage, in der sich das deutsche Volk damals befand, bei der drohenden Gefahr des Kommunismus, es besser war, zu viel als zu wenig zu tun.“

Trotzdem war das Gesundheitswesen in einem kritischen Zustand wegen drastischen Mangels an Ärzten und Pflegepersonal, sowohl im ambulanten wie im stationären Bereich, auch wegen baulicher Vernachlässigung der Krankenhäuser.

1972 wurde mit dem Krankenhausfinanzierungsgesetz die duale Finanzierung der Krankenhäuser eingeführt, das heißt die Bundesländer, die Steuerzahler also, wurden zur Bezahlung der Investitionskosten verpflichtet, die Krankenkassen, die Beitragszahler also, kommen nach dem Selbstkostendeckungsprinzip für die Betriebs- und Behandlungskosten der Krankenhäuser auf. Dabei wurden freigemeinnützige und private Krankenhäuser besonders bevorzugt. Niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser schrieben die Rechnungen und die Krankenkassen bezahlten. Mit Einstellung von mehr gut ausgebildetem Personal, mit Investitionen in den medizinischen Fortschritt verbesserte sich die Patientenversorgung durchaus und die Verweildauer der Patienten in den Krankenhäusern sank, aber viele Chefärzte wurden zu Millionären, die Krankenkassengelder waren – und sind – eine sichere Bank für Pharma- und Geräteindustrie. Obwohl der Anteil der Gesundheitsausgaben konstant um die 10 Prozent des BIP schwankte, wurden die Forderungen nach Kostendämpfung immer lauter – die Krankenkassen steuerten angesichts Wirtschaftskrise und Entwicklung von Massenarbeitslosigkeit auf eine Einnahmekrise zu.

Seit 1985 wurde zugelassen, dass Gewinne in den Krankenhäusern erwirtschaftet werden dürfen. Seitdem gehen die privaten Klinikkonzerne auf wie Hefekuchen mit 10 bis 15 Prozent Renditeerwartung. Inzwischen gibt es mehr privatisierte Krankenhäuser als solche in öffentlicher Hand, die allerdings mehr als doppelt so viele Patienten versorgen (Privat: 720 Krankenhäuser, 17 Prozent der Patienten; Öffentlich: 560 Krankenhäuser, 49 Prozent der Patienten).

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"Sie brauchen die Arbeiter …", UZ vom 12. Juli 2019



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